9. Interview mit Sergej Wicharew

Mariinsky-Festival 2003

München, 26/07/2003

In der Pause einer der Festival-Vorstellungen traf ich Sergej Wicharew. Der ehemalige gefeierte Solist des Mariinsky-Theaters hat seine Tänzerkarriere verletzungsbedingt vorzeitig beendet, ist Ende der 90er Jahre Ballettmeister geworden und seit kurzem Direktor des Balletts in Nowosibirsk.


tanznetz: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, sich zusätzlich zu Ihrer offiziellen Arbeit der Rekonstruktion von Petipa-Balletten zu widmen?

Sergej Wicharew: Es ist allseits bekannt, dass jede Version eines Balletts nur eine begrenzte Zeit lang leben kann. Sie wird geboren und vergeht, ganz unvermeidlich. Die Direktion des Mariinsky-Theaters hat gemerkt, dass Sicht auf die existierende, bisher hier aufgeführte Version aufgefrischt werden musste, also eine Neubearbeitung nötig war. In dieser Situation deuteten unsere amerikanischen Freunde an, dass einige Aufzeichnungen der Choreografien von Petipa aus der Sammlung von Nikolai Sergejew am Ende ihres schwierigen Weges nach der Revolution in der Theater-Sammlung der Harvard University gelandet seien. Keiner der russischen Ballettkritiker oder -–historiker hatte diese Sammlung je gesehen, und deshalb konnte uns diesbezüglich niemand beraten. Um das Ansehen von Nikolai Sergejew stand es nach der Revolution nicht zum Besten, nachdem er mit diesen Aufzeichnungen emigriert war. Dafür hatten der große russische Ballettmeister Fjodor Lopuchow und einige Tanz-Theoretiker gesorgt. Aber wir sind das Risiko eingegangen und vom Mariinsky-Theater nach Harvard gereist, wo wir sehr gut empfangen wurden. Zuerst haben sie uns die Notation von „Dornröschen“ zugänglich gemacht, und das wurde unser erstes Rekonstruktionsprojekt. Dann bekamen wir die Aufzeichnungen von „Coppelia“, was ich in Nowosibirsk herausgebracht habe, und dann die Materialien zu „La Bayadère“.

tanznetz: Gab es, als Sie die Aufzeichnungen schließlich vor sich sahen, besondere Schwierigkeiten oder positive Überraschungen?

Sergej Wicharew: Völlig unerwartet war ja, dass diese Aufzeichnungen überhaupt existierten, und dass sie vollständig waren. Sie sind im System von Stepanow, dem früheren Lehrer an der „Russischen Theater- und Ballettschule“ in St. Petersburg, notiert. Wir mussten dieses System erst lernen, bevor wir die Aufzeichnungen der alten Petipa-Ballette entziffern konnten, denn dieses System ist heute nicht mehr in Gebrauch.

tanznetz: Hatten Sie die Erwartung, dass einige Passagen, wenn man diesen Aufzeichnungen folgte, besser würden als in den bis jetzt aufgeführten Versionen? Oder gab es umgekehrt in den bisherigen Aufführungen dieser Stücke Teile, die in Ihren Augen die Einheit störten?

Sergej Wicharew: Es geschieht mit jeder älteren Produktion, dass sie sich ändert. Manches wird schlecht getanzt, manche Details gehen verloren, das passiert einfach im Lauf der Zeit. Einige Dinge sind beispielsweise durch die ausführenden Künstler geändert, denn nicht jeder Ballett-Star hat die Tradition gewahrt. Viele von ihnen denken gar nicht an die Tradition, sondern lieben es, eigene Veränderungen anzubringen. Auf diese Weise nagt die Zeit an einer Vorstellung.

tanznetz: Im Fall von „La Bayadère“ waren die Unterschiede aber doch fundamentaler...?

Sergej Wicharew: Bei „La Bayadère“ war es natürlich am wichtigsten, die Gesamtstruktur des alten Petipa-Balletts zu rekonstruieren, alle Bestandteile an ihren richtigen Platz zu stellen, was bedeutete, die gesamte künstlerische Welt dieses Werks wiederzubeleben.

tanznetz: Vielleicht können manche Zuschauer den großen Unterschied zwischen der früher gezeigten und der jüngst durch Sie rekonstruierten alten Version gar nicht bewusst wahrnehmen. Was ist also in Ihren Augen der größte Gewinn ihrer Erforschung des Originals?

Sergej Wicharew: Die Antwort ist, glaube ich, evident, denn jetzt zeigen wir nicht mehr nur drei Viertel eines Stücks, sondern dessen vollständige Aufführung einschließlich des 4. Aktes. Dadurch steht jetzt die richtige Szene am Schluss, und die Vorstellung hängt nicht mehr in der Luft.

tanznetz: Wenn nun weitere Kompanien eigene „La Bayadère“-Produktionen planen würden, hätten Sie dann irgendwelche Vorschläge, wie sie vorgehen sollten?

Sergej Wicharew: Ich kann ihnen leider nicht nahelegen, mich einzuladen, weil das oft unmöglich ist. Aber ich kann auch nicht zustimmen, dass die im Westen gezeigten Versionen original oder authentisch genannt werden. Denn erstens und vor allem hat niemand die Original-Partitur. Die existiert nur im Archiv des Mariinsky-Theaters, ist dessen Eigentum und wurde niemals publiziert. Alle vollständigen „La Bayadère“-Produktionen, die im Westen einschließlich des 4. Aktes gezeigt werden, haben entweder Kopien dieser Partitur gestohlen oder einen Komponisten eingeladen, für den 4. Akt zusätzliche Musik zu schreiben. Makarowas Version z. B. benutzt Musik von John Lanchbery. Die Original-Partitur, die wir jetzt zu Grunde legen konnten, haben wir aus einzelnen Stücken zusammengesetzt, die in der Musikbibliothek des Mariinsky-Theaters aufbewahrt werden. Ich kann also sagen, dass alle anderen Versionen nur fantasievolle Improvisationen über das Thema „La Bayadère“ sind, die für sich selbst gesehen natürlich das Recht haben zu existieren. Es gibt ja nicht nur viele Versionen von „La Bayadère“, sondern auch von „Schwanensee“ und von „Dornröschen“. Aber ich fürchte, dass Petipa oder Tschaikowsky, wenn sie die sehen würden, geschockt wären und vor Schreck gleich wieder sterben würden.

tanznetz: Herr Wicharew, haben Sie persönlich aus ihren bisherigen Rekonstruktionsprojekten so große Befriedigung gezogen, dass Sie diese Serie fortsetzen möchten?

Sergej Wicharew: Ich hoffe, dass das Mariinsky-Theater daran interessiert ist, mit der Rekonstruktion alter Petipa-Ballette fortzufahren. Auch wenn andere Theater Interesse zeigten, wäre ich bereit, daran weiter zu arbeiten. Zumal diese Rekonstruktionen jetzt die Aufmerksamkeit nicht nur hier, sondern auf der ganzen Welt auf sich ziehen. Auch die Kritik bringt ihnen großes Interesse und hohe Anerkennung entgegen.

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