Theatraler Nostalgie-Trip in das Reich kindlicher Phantasie

DVD von Maguy Marins „Cinderella“ reproduziert

Arthaus Musik, 23/08/2012

Es war einmal ein Mädchen, das war in allen Herren Länder bekannt und hatte daher viele Namen. Aschenputtel hieß das Mädchen, das so schön war, dass es den Neid der bösen Stiefmutter und der gehässigen Stiefschwestern erregte und von diesen als Magd gedemütigt wurde. Doch der Prinz machte das Mädchen, das seinen Schuh verloren hatte, zu seiner Frau. Das Märchen um das arme Mädchen wurde viel beschrieben, man benannte Opern, Film- und Ballettwerke nach ihm. Es gab derer so viele, dass es eine Freude war.

Auch die französische Choreografin und ehemalige Béjart-Tänzerin Maguy Marin hatte 1988 im Auftrag der Opéra National de Lyon den Cinderella-Stoff vertanzt. Ihre Ballettadaption ist unter all den bekannten „Cinderella“-Versionen einzigartig. Marin hat das populäre Perrault-Märchen in die Welt kindlicher Phantasie verfrachtet. Statt mit der Erzählung inhärenter Symbole wie Tauben und Linsen, Haselnüsse, Kürbisse oder Mäusen zu jonglieren, inszeniert die Choreografin aus einer kindlichen Perspektive heraus. Reich an Imaginationskraft entwickelt die Französin ein schillerndes Fantasiereich, in dem Träume wahr werden, das aber auch ständig in unangenehme Situationen umkippt: Marin thematisiert kindliche Ängste wie vor sozialer Ausgrenzung, Hänseleien − und vor dem Hinfallen, einer im Ballett besonders gefürchteten Peinlichkeit. Dass sich Spielsachen plötzlich verselbstständigen, ist an sich nichts Ungewöhnliches. (Dass dieser theatrale Kniff zu riesigem Erfolg führen kann, zeigte jüngst die Pixar-Trilogie des Comics „Toy Story“). Gewöhnungsbedürftig allerdings ist das Aussehen der Tänzerinnen und Tänzer in Marins groteskem Ballett, die als lebendige Puppen in einem mehrstöckigen Puppenhaus in Aktion und in gelegentlich albtraumhafte Atmosphäre treten. (Die DVD ist ab 0 Jahren freigegeben).

Die Balletttänzer der Opéra National de Lyon tragen aufgepolsterte Kostüme, die ihren Körpern kindliche Rundungen verleihen. Ihre Häupter stecken in von Monique Luyton kreierten Puppenköpfen, die porzellanartig, angegraut, vergilbt und gesprungen, die unterschiedlichsten Kindsköpfe imitieren. Das wirkt zunächst befremdlich, ist in Wahrheit aber eine Spitzenidee der Bühnen- und Kostümbildnerin Montserat Casanova. Ihr Einfallsreichtum zeigt sich auch in den aufgetürmten Frisuren, wie auch im kreativen Umgang mit Stoffen, Farben und Kostümformen. Des Prinzen Gefolge und dessen Gäste, an den Hüften aufgeplusterte und sonst auch recht aufgeblasene Frack- und Rockträgerinnen, werden den guten Figuren wie Aschenputtels feenhafter Patentante (Nathalie Delassis) im blinkenden Roboter-Anzug gegenübergestellt. Von ihr erhält das Mädchen die (selbstverständlich) pinkfarbenen Glitzer-Schuhe, von denen sie einen auf der Treppe des Prinzen verliert. Aschenbrödels Kleid wie auch die Krone des bis zur Perücke der Farbe blau zugeschriebenen Prinzen sind mit kleinen blinkenden Lämpchen geschmückt. Maskierung und Kostümierung erfordern von den Tänzern besonderen Körpereinsatz und eine einzigartige Bewegungssprache.

Genau darin liegt der Reiz der durchweg stimmigen Inszenierung. Gesten und Bewegungen charakterisieren die einzelnen Figuren. Die stark einwärts gedrehten Füße von Aschenputtel weisen auf ihre tragische, unterdrückte Stellung innerhalb des Puppenkabinetts hin. Fein kontrollierte Gesten bis in die Finger- und Fußspitzen und ohne auf technisch-akkurate Raffinesse zu verzichten, verleiht Françoise Jouillie Cinderellas Gefühlen überzeugend Ausdruck. Jouillie gelingt die unglaubliche Spannbreite von kindlich tollpatschigem Bewegungsduktus, über puppenhafte Steifheit in Knien, seitlich abstehenden Armen hin zu akrobatischer Flexibilität und sportlich-klassischer Balletteleganz. Schlichtweg eine brillante Leistung! Artifiziell und emotional authentisch ist der Pas de deux im 2. Akt, in dem sich der Prinz (Bernard Cauchard) und Cinderella näher kommen. Auch menschlich wirkt die Szene, in der sich die noblen Gäste des Prinzen um die Lutscher und Naschereien streiten und dabei das frische Liebespaar über den Haufen rennen. Kindliche Spiele wie Seilhüpfen, Schabernack treiben, Grimassen schneiden und vor Lachen über den Boden kullern − Maguy Marin hat den Bewegungsmöglichkeiten keine Grenzen gesetzt.

Zu Ausschnitten aus Sergei Prokofjews Originalkomposition, gespielt von dem Orchesters der Opéra National de Lyon unter der Direktion von Yakov Kreisberg, entwirft Jean Schwarz elektronisch verzerrtes Baby-Gelächter und Gebrabbel, was die irreale Färbung der Inszenierung unterstützt und der Handlung retardierende Momente schenkt. Einziger Nachteil der Aufnahme sind die dunklen Lichtverhältnisse, die die Kontraste aufweichen und das Auge schnell ermüden lassen. Immerhin ist die Aufnahme über 20 Jahre alt. Marins „Cinderella“ tut dies aber keinen Abbruch. Das Werk strahlt weiterhin eine fesselnde Faszination aus, überzeugt in der guten Figurencharakterisierung und den fantasievollen Einfällen der Bewegungs- wie Bildersprache. Empfehlung: Sehenswert! Marins knapp 90minütige Neuinterpretation des Ballettklassikers ist seit Mitte August in einer Reproduktion der Live-Aufnahme von 1989 bei Arthaus Musik (Naxos Deutschland GmbH) erschienen und als DVD ab 27,99 Euro erhältlich.

 

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