Französischer Kulturfrühling in Berlin

Zum Abschluss gastiert das ambitionierte „Ballet de l´Opèra de Lyon“

Berlin, 30/03/2007

Drei Wochen hat der staunende Besucher Gelegenheit sich in Rahmen des Festivals „France en Scène“ mit aktuellem zeitgenössischen Theater, Gegenwartsdramatik, Tanz und Nouveau Cirque bekannt zu machen. 14 Compagnien präsentieren in 35 Aufführungen an sieben verschiedenen Spielorten in der Metropole neue Produktionen. Eingeladen wurden vor allem Arbeiten der jungen Künstlerszene, die die Grenzen zwischen Tanz, Musik, bildender Kunst, Performance und Theater sprengen.

Dazu zählt die „Compagnie 111“ aus Toulouse, die den letzten Teil ihrer Trilogie „Mehr oder weniger das Unendliche“ als Deutschlandpremiere im Admiralspalast präsentierte. Der amerikanische Regisseur Phil Soltanoff lässt nach einem Konzept des künstlerischen Leiters und Akteurs Aurélien Bory fünf Männer und eine Frau in makellosem Business-Outfit in ungewöhnliche Interaktion mit im Raum schwebenden Stäben treten. Reale Aktionen und virtuelle Aktion treffen sich, die Grenzen sind fließend. Leuchtende Stäbe und coole Menschen, teilweise durch Licht und Bewegung raffiniert in einzelne Gliedmaßen zerlegt, die isoliert in immer neuen Haltungen an den Stäben klammern, hängen, grotesk balancieren und verblüffend durch den schwarzen Bühnenraum gleiten.

Der einstündigen Szenenfolge fehlte die dramaturgische Dichte, der Fokus ist nicht scharf gestellt, doch entstehen durch Wiederholung und permanente Verwandlung einige assoziative Bilder vom tragikomischen Menschsein in der emotionslosen Hypermoderne. Wenn Jean-Baptiste André immer wieder bis in die aberwitzigsten Situationen hinein den Zipfel seines Hemdes verlegen in die Hose zu stecken versucht, so ist dies eines der großartigen Details seiner außergewöhnlichen Solo-Performance „Intérieur Nuit“. Voll zärtlicher Melancholie lässt er uns einen Mann beobachten, der in einer genau dosierten Mischung aus Akrobatik, Schauspiel und Tanz im Zusammenklang mit digitaler Bildtechnologie und elektronischer Musik in immer neuen Anläufen innere Ängste und Träume durchlebt, die die Nacht in seinem Körper freisetzt.

Anfangs sind die Hemden geordnet und die Vögel zwitschern zwischen Autolärm, der die Wohnung umtost. In der nächtlichen Einsamkeit hingegen entfaltet sich seine naive Fantasie, lauert das Unbekannte hinter den Mauern, wird das Zimmer zum magischen Raum eigener Selbstbehauptung und Selbstfindung. Zwischen zwei hohen Wänden entfaltet sich ein kontorsionistischer Dialog des armen Schluckers mit seinem Ich und dem virtuellen Spiegelbild in irritierenden Perspektiven. Der nach vorn zum Zuschauer offene Innenraum ermöglicht Intimität, Ruhe und Genuss an den ständigen Veränderungen: Andrés genießt das Spiel seiner Zehen, eruptiv erklimmt er nicht nur die Wände, sondern geht, sitzt, hängt (entgegen aller Gesetze der Schwerkraft) an ihnen, treibt Augen und Seele der Zuschauer in permanente Irritation. Ein umjubelter Auftritt des 1979 geborenen Artisten aus Reims. Eine exzellente Studie über die spezifische Verbindung von Zirkusartistik und zeitgenössischer Bühnenkunst.

Models in stereotypen Posen mit bandagierten Köpfen, teils wulstigroten Lippen und falschen Haaren tragen schwarze Abendkleider mit Tierschädelketten. Die Konterfeis der politischen Befreiungsbewegungen von Ghandi, Che, Mutter Theresa sind im 21. Jahrhundert zu ikons auf Klamotten der Markenlabels geschrumpft. Sie werden von „toten Seelen“ vorgeführt, während die Filmsequenz Martin Luther Kings „I have a dream“ die Vision einer anderen Welt heraufbeschwört. Die 45jährige bildende Künstlerin Fanny Bouyagui aus Roublaix provozierte auch in Berlin mit ihrer thematischen Fashion Performance von Art Point M. Die Form der Modenschau ist mit einer großformatigen Video-Tonspur hinterlegt, um Markenfetischismus, weibliche Selbstdarstellung und den selbstmörderischen Produktions- und Konsumzwang der westlichen Welt in kraftvolle Bilder zu pressen. Der Messias bleibt in allen Religionen ein Traum. Die Bühne ist leer. Der apokalyptische Filmcrash hält noch lange an und treibt die Zuschauer aus dem Theater in unsere „Beautiful World“.

Zum Abschluss gastiert das ambitionierte „Ballet de l´Opèra de Lyon“ mit drei Arbeiten der innovativsten europäischen Choreografen. Als Deutschlandpremiere wurde Sasha Waltz´ „Fantasie“ zu Franz Schuberts eindringlichem Spätwerk für Klavier zu vier Händen f-moll, op. 103 zu Recht gefeiert. Eine der dichtesten Arbeiten für zwei Frauen und sechs Männer. Aus der Stille körperlicher Bedrohung im Männerduett entwickelt die Choreografin in Korrespondenz zur musikalischen Entwicklung den Zwiespalt zwischen Einzelwesen und Gruppe, geeint im übermächtigen Drang in Bewegung zu bleiben. Wunderbar leicht atmet man mit den vielgestaltig wie Schmetterlinge den Raum durchfliegenden Menschen im Scherzo. Ein poetisches Tanzstück voller Nuancen über die Sehnsucht getragen zu werden, nicht allein zu bleiben.

Stürmischer Beifall im ausverkauften Radialsystem auch für die Deutschlandpremiere „Grosse Fugue“ (2001) von Maguy Marin. Ein überwältigender Kraftakt für Frauen-Quartett (Beethoven Streichquartett Nr. 16). In fahrig zuckenden Bewegungsfolgen rennen, trippeln vier Frauen in kurzen roten Röcken und Shirts orientierungslos im Raum. Vier Stimmen, die springen, zurückweichen, fallen, rennen, fallen und immer wieder versuchen, auf die Beine zu kommen, Allein und zusammen bis zur mehrmaligen Erschöpfung. Einmal halten sie inne und schauen ins Publikum. Ein hochexpressiver Lebenstanz des extrem beschleunigten weiblichen Sisyphos der Moderne. Bravo für Dorothée Delabie, Peggy Grelat Dupont, Sora Lee und Coralie Bernard.

William Forsythe lässt in „Duo“ (2003) zwei Frauen zu meditativ betörender Klaviermusik von Thom Willems wie rätselhafte Uhrzeiger miteinander und gleichsam zeitversetzt pendeln, bis der Atem der einen und alle Bewegung zum Stillstand kommen. Ein hochklassiges Programm - zeitgenössischer Tanz nachdenklich, kraftvoll, jenseits aller Belanglosigkeit, tänzerisch und musikalisch anspruchsvoll.

Patrice Chéreau gab mit seiner Lese-Performance den Auftakt - den Abschluss bildet morgen die Begegnung der bekannten Choreografin Mathilde Monnier mit dem Popstar Philippe Katerine.

Merci - à la prochaine fois, vielleicht mit einem Gastspiel des Cirque du Round-Pointe von Chaplins Enkel James Thiérrée, dem begnadeten Zauberer des Nouveau Cirque (ohne Clown, ohne Fanfaren, ohne Hanswurst), dem im Rahmenprogramm bereits eine Filmreihe gewidmet war.


Festival France en Scène - noch bis 1. April u.a. mit Ballet de l´Opèra de Lyon, 31. März 2007, 20. Uhr Radialsystem V Mathilde Monnier/Katerine, 1. April 2007, 21 Uhr Radialsystem V

 

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