„Cinderella“ von Jean-Christophe Maillot

Ins Märchenglück auf goldenen Füßen

Jean-Christophe Maillots „Cinderella“ in Prag

Kaum zu glauben. Diese choreografische Interpretation eines Klassikers der Märchenballette mit der Musik von Sergej Prokofjew kreierte Jean-Christophe Maillot bereits 1999 für Les Ballets de Monte-Carlo.

Prag, 04/04/2023

Sie sind natürlich zu erkennen, diese herzberührenden Märchenmotive, wie sie für uns die Gebrüder Grimm in ihrer Fassung vom „Aschenputtel“, die der französischen Vorlage „Cendrillon“ von Charles Perrault folgt, bekannt gemacht haben. Prokofjews Ballett wurde 1945 beim Moskauer Bolshoi-Ballett uraufgeführt, ging dann bald um die Welt, regt immer wieder an zu neuen, mitunter auch recht speziellen Interpretationen. Ganz sicher gehört Maillots Fassung, wie sie jetzt aktuell beim Nationalballett im Prager Nationaltheater zu erleben ist, zu den speziellen Interpretationen. Vor allem, weil hier sowohl die Persönlichkeit des „Aschenputtels“ von etlichen Klischees befreit ist und sehr absurde und um sich kreisende, regelrecht überdrehte Charaktere, die sie gewissermaßen umtanzen, ohne sie jemals erreichen zu können, bis an die Grenzen skurriler Varianten des Tanzes geführt werden. Das ist eine enorme Herausforderung für die Prager Kompanie, auch für das Publikum, am Ende aber ein gewinnender Erfolg für alle.

Prokofjews Musik, gespielt vom Orchester des Nationaltheaters unter der Leitung des Musikdirektors Jaroslav Kyzlink, ist in erster Linie tänzerisch, Rhythmen im Dialog mit Melodik der Sehnsucht, Überschwang und grelle Übertreibung im krassen Wechsel zu den Motiven sehnsuchtsvoller Bescheidenheit jenes letztlich doch so verkannten Cinderella-Aschenputtels, tschechisch: Popelka.

Die Choreografie, mit der Aufnahme klassischer Formen im Übergang zu solchen der Neoklassik, bis hin zu harten, zeitgenössischen Brüchen, gelingt. Dies mitunter auch bei derbem Humor, scharf gezeichnete Charakterisierungen einer um sich kreisenden Gesellschaft, der eigentlich jede Art der Orientierung des Miteinanders verloren gegangen ist. Wenn auch zunächst etwas ungewohnt wahrzunehmen, nimmt diese choreografische Interpretation von Maillot das alles konsequent auf und – was geradezu verwundert – es wirkt vor allem tänzerisch und optisch sehr zeitgemäß. Auch nach gut 25 Jahren, weder Schnee noch Staub von gestern.

Einen höchst emotionalen Akzent setzt die Eingangsszene. Zwar wird Prokofjews Melodie der Erinnerung an die verstorbene Mutter aufgenommen, aber dennoch ist die Gegenwart schon präsent. Hier ist die Mutter zurückgekehrt, sie ist die Fee, sie wird weder ihr Kind noch ihren Mann verlassen. So wird Ayaka Fujii in dieser ganz besonderen Feenrolle zu einer entscheidenden Person dieses in die Gegenwart führenden Märchens. Alina Nanu als Popelka, mit dem Kleid der Mutter, kann bald den Blick wenden, im Tanz zu sich finden, dabei der sicheren Bodenständigkeit vertrauen, denn weder goldene noch gläserne Schuhe, blutige Füße schon gar nicht, sind hier von Bedeutung. Alina Nanu setzt dadurch, dass sie auf bloßen Füßen tanzt, mehr als nur ein Zeichen: Aus der Trauer wird Hoffnung, im übertragenen Sinne, Aufstieg aus der Asche.

Schwerer fällt es dem Vater, wenn Patrik Holeček berührend seiner schwermütig schwankenden Unentschlossenheit Ausdruck gibt. Dieser Ausdruck bezieht sich zunächst darauf, dass hier alles zerbrochen ist mit dem Tod der Frau, dem Tod der Mutter für das Kind.

Wie Bruchstücke wirken somit auch die verschiebbaren Versatzteile auf der Bühne von Ernest Pignon-Ernest. Hier fügt sich nichts mehr zu einem Ganzen. Auch die Worte, die Erinnerungen wollen sich nicht mehr fügen, und so verstört zu Beginn auch noch eine zerborstene Wand mit Wörtern und Silben, Trennungen und Überschreibungen. Nichts zu entziffern, alles durcheinandergeraten. 

Aber – und das zeichnet diese Interpretation aus – bald zeigen sich höchst existenzielle Gegensätze: Bis in den Exzess irreführende Eskapaden der Selbstüberschätzung. Wie hier jede Bodenhaftung verloren gegangen ist, interpretiert der Choreograf mit Evgeniya Victory Gonzalez als Stiefmutter, Alexandra Pera und Mariana Gasperin als ihre total überdrehten Töchter zu einem schrillen Trio Infernale. Jérôme Kaplans Kostüme geben hier im besten Sinne auch dem Affen Zucker, es wird grell, es wird schrill, bei diesen Abziehbildern einer spaßverliebten Gesellschaft, die sich geradewegs in den Abgrund tanzt.

Und das führt in absurde Auswüchse: Francesco Scarpato und Giovanni Rotolo nutzen als professionelle Spaßvögel alle Chancen, die ganze Gesellschaft aufzuheizen: Die vier Freunde des Prinzen, dazu vier weitere recht seltsame Figuren, bis hin zur ganzen Gästeschar des Balls mit einem Quartett exotischer Tänzer*innen. Und da will dieser Prinz seine Braut, die Frau fürs Leben finden? Jakub Rašek ist dieser Prinz, der sich schon sehr von seiner Umgebung unterscheidet. Berührend, wie dieser Tänzer seiner Verunsicherung Ausdruck geben kann, wie er an den offiziell geladenen, sich aufdrängenden Bräuten samt deren Muttermanagerin vorbeitanzen möchte, so als sähe er sie schon sehnsuchtsvoll, diese junge Frau, die dann, eben ganz und gar ungeladen, einfach diesen Raum betritt. Und das zeichnet diesen Prinzen aus, er nimmt sie wahr, sie ist wie sie ist, ganz nah am Boden, mit bloßen Füßen tanzt sich Alina Nanu in sein Herz.

Aus den Bruchstücken der Szene führt eine Treppe, und dieses Aschenputtel, diese Popelka, kommt herab. Aber sie wird dann auch, wenn die Uhr schlägt, wieder heraufsteigen. Oder ist es hier besser die Stunde, die schlägt, nämlich die Stunde der Entscheidung für den Prinzen, ihr zu folgen oder nicht. Wie entscheidet er sich, wird er sie finden wird?  Denn einen Schuh, der ihr passen würde, hat sie hier ja nicht verloren.

Aber er gibt nicht auf. Und wie sollte es in dieser Fassung anders sein: An ihren Füßen soll er sie erkennen, die sind nämlich weiß und rein, die der Schwestern hingegen total verdreckt.
Und es gibt für den Vater einen versöhnenden Epilog in dieser Fassung: Er hat den Mut, seine zweite Frau zurückzuweisen, sich von der verstorbenen Frau zu verabschieden, in einem berührenden Tanz, eben mit jener Fee, als die sie ihn und die Tochter bislang begleitete. Tod und Leben, Abschied und Liebe, immer wieder, jene Treppe hinauf.
 

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