Frühlingserwachen - turbulent und skandalumwittert

Welturaufführung bei der Documenta 12: Yvonne Rainer revidiert die Pariser Sacre-Premiere von 1913

Kassel, 22/08/2007

Schweißtreibende Stampf- und Sprungorgien, Versatzstücke folkloristischer Reigen, lyrisch-satyrische Nijinsky-Idiome ironisch gebrochen durch die groteske Gestik des amerikanischen Komikers Robin Williams und die exzentrischen Pathos-Posen der französischen Schauspielerin Sarah Bernhardt – im Rückgriff auf die skandalumwitterte Pariser Premiere von „Le Sacre du Printemps“ (1913) hinterfragt Yvonne Rainer in „RoS Indexical“ ästhetische Konventionen. Für ihre amüsant-intelligente Neuinterpretation, die gleichermaßen eine Hommage an Vaslav Nijinsky wie auch Analyse und Dekonstruktion ist, erntet sie im Kassler Kellertheater des Fridericianums viel Beifall.

Statt der Musik von Igor Strawinsky - seit dem Film „Rhythm is it!“ in aller Ohr - verwendet Rainer den Soundtrack der BBC-Verfilmung „Riot at the Rite“ (2005), die den kolportierten Aufruhr dramatisiert. Während sich das Orchester einspielt, hört man Diaghilew euphorisch rufen: „Farewell la Belle Époque, welcome to the New Age!“. Das Filmpublikum applaudiert, der Vorhang hebt sich, ein harmloses Lento schildert die Wiederkehr des Frühlings. Die Rhythmen werden wilder, die Musik steigert sich und eskaliert in einem vielstimmig dissonanten Klanggewitter, durch das aufgebrachte Rufe gellen: „You're taking a piss on us, Diaghilew!” „Meine vier Tänzerinnen, Pat Catterson, Emily Coates, Patricia Hoffbauer und Sally Silvers im Alter zwischen 30 und 60 Jahren, geben in der ersten Hälfte des Stückes Fragmente der choreografischen Rekonstruktion wieder, soweit sie im Film zu sehen ist“, erläutert Rainer. Bei Gegenschnitten aufs Publikum habe sie den Tänzerinnen eine Ruhepause auf dem Plüschsofa gegönnt oder eigenes Material eingefügt.

Die tonangebende Repräsentantin des legendären Judson Dance Theaters hat nach ihrer Tänzerkarriere mehr als drei Jahrzehnte Filme gemacht. Fließend bewegt sich ihr jüngstes Werk zwischen filmischem und theatralem Diskurs. Sie schichtet, schachtelt und montiert frei nach dem Motto: History is fiction and fiction is history. Im Höhepunkt der Auseinandersetzungen zwischen begeisterten Anhängern und entrüsteten Gegnern der „primitiven“ Musik und „animalischen“ Bewegungen fallen Film- und Theaterrealität zusammen. Als wäre der Funke der Entrüstung vom Soundtrack ins Theater gesprungen, inszeniert Rainer den Übergriff. Unter den Jugendlichen, die auf die Bühne stürmen sind auch zwei Figuren, ein Brautpaar des bäuerlichen Russlands in historischen Kostümen, die alle lautstark pöbeln. Den Angriffen aus der Vergangenheit wie der Gegenwart folgen auch noch Verbalattacken auf schwarzen Stofffahnen, die sich im Bühnenhimmel drehen und auf Vorder- und Rückseite mit Begriffspaaren wie glories / aargh, erase / act, sofa / terror, when? / if not now Rätsel aufgeben.

„I’m a Dadaist“ bemerkt Rainer im Pressegespräch und irritiert mit sperrigen Titeln. In „AG Indexical, with a little help from H.M.“ (2006, deutsche Erstaufführung) bürstet die Choreografin den Balanchine-Klassiker „Agon“ (1957) feministisch- kritisch gegen den Strich. In Trainingsklamotten führt das ungleiche Quartett die technische Virtuosität des Balletts ad absurdum; schließlich entledigt sich die Ballerina der Spitzenschuhe und gesellt sich zum Trio, um in Turnschuhen leichtfüßig zur „Pink Panther“-Melodie von Henry Mancini zu swingen. Nachsatz: Beim Schlendern durch die bilderreiche Ausstellung fällt der Blick im Schloss Wilhelmshöhe auf eine Miniatur des 18. Jahrhunderts von Mihr Chand „Tanz beim Holifest am Mogulhof“. Umgeben von Musikantinnen und Dienerinnen, die farbiges Duftwasser versprühen, tanzt ein islamischer Herrscher mit seiner hinduistischen Geliebten auf der Terrasse eines Schlosspavillons und begießt sie mit Wein aus einer Karaffe. Blühende Bäume säumen die ausgelassene, farbenfrohe Szene dieses ganz anderen Frühlingsfests.

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