So viel Tanz war nie

Ein bilanzierender Rückblick auf die Documenta 12

Kassel, 25/09/2007

„Die schlechteste Ausstellung aller Zeiten“ tönt der Daily Mirror in London, als „Katastrophe“ wird sie von der New York Times bewertet und auch die Fachwelt hierzulande ereifert sich wortgewaltig über die Documenta 12. Allen voran der streitbare Wuppertaler Kunstprofessor Bazon Brock, der von Willkürpathos und Kuratorenkaraoke spricht, dem Ausstellungsleiter Roger M. Buergel gar Charakterlumperei und Führerarroganz vorwirft. Der Grund: Buergel, feministisch angehaucht, hat seine Lebensgefährtin, die Kunsthistorikerin Ruth Noack zur Ko-Kuratorin berufen. Das Resultat: nie zuvor war Kochkunst als documentawürdig und geschmacksbildend erachtet worden, nie zuvor war auf der wichtigsten Ausstellung für Gegenwartskunst das Geschlechterverhältnis der Ausstellenden so ausgewogen, nie zuvor wurden Schüler, Kinder wie Jugendliche so explizit in die Kunstvermittlung eingebunden, nie zuvor wurde so vielen No-Names das Kassler Licht der Weltöffentlichkeit zuteil wie bei dieser Documenta. „Kunstmarktferne Ethnoschau“, ein „Griff in die Mottenkiste“ sind Bemerkungen, die sich das Leitungsteam dafür einhandelt. „Ist die Moderne unsere Antike?“ Wie sonst, als durch den Griff in die Mottenkiste ließe sich diese Leitfrage der d12 illustrieren? Dass Positionen der 50er, 60er und 70er Jahre alles andere als verstaubt sind, dafür stehen neben dem performativ-aktionistischen Ansatz der japanischen Gutai-Gruppe, namentlich durch Atsuko Tanaka (1932-2005) und ihr „Electric Dress“ vertreten oder den minimalistischen Objekten und Skulpturen von Charlotte Posenenske (1930-1985) – der getanzte Minimalismus von Trisha Brown (1936).

Der Pionierin des modernen Tanzes haben die Ausstellungsmacher einen zentralen Platz im Fridericianum eingeräumt. Brown, die in den 60er Jahren alltägliche Bewegungen und Orte erforschte und ihre Tänzer auf Dächern auftreten oder an Seilen Hauswände entlang laufen ließ, zeigt im Zentrum der Belle Etage des Museums zwei Frühwerke: „Floor of the Forest“ (1970) und „Primar Accumulation“ (1971).

Letzteres ist eine Serie repetitiver Abläufe, die, in den drei Eingangsbereichen ausgeführt, den Besucherstrom vorübergehend zum Stillstand bringt. Dem Wunsch, den Ausstellungsparcours ungehindert fortzusetzen, stehen die Tänzer - barfuß im legeren Probendress, zu zweit oder dritt - eine Viertelstunde im Weg, mehr noch führen kleine Ausfallschritte und lockere Battements zu Berührung mit dem Publikum. Die Reaktionen reichen von der Lust an Nähe und Irritation bis zu missbilligenden Kommentaren und dem Versuch, sich ungeduldig durch die Tanzszene zu drängeln. Beschaulich meditativ hingegen ist „Floor of the Forest“, eine vierkantige Installation aus Metallrohren, verspannten Seilen und daran aufgehängten Kleidungsstücken. Ohne den Boden zu berühren, kriechen bis zu drei Tänzerinnen durch Taue, schlüpfen in die bunten Textilien, bleiben eine Weile drin hängen und suchen nach Momenten der Ruhe wieder eine neue Position, um inmitten der Klamotten zu baumeln. Brown hat für die beiden Performances vor Ort 40 professionelle Tänzer (darunter nur wenige Männer) engagiert, die jeweils zu zwölft zu einer fünfstündigen Schicht antreten und, einem Ritual gleich, in stündlichem Turnus das Programm durchziehen. Konzentrierte Stille, abstrakte Schattenmuster am Boden und ein entrücktes Zeitgefühl – die „Waldboden“ betitelte Improvisation zieht vermöge poetischer Kraft die Zuschauer in Bann und „Primar Accumulation“ hat nach über 30 Jahren nichts von der ursprünglichen Kraft sanfter Provokation eingebüßt. Dieser Griff in die Mottenkiste hat sich im Laufe der 100 Ausstellungstage zum oft zitierten „Highlight“ entwickelt. 

Ein Glücksgriff also, wie auch die neuen Arbeiten von Yvonne Rainer (* 1934), „AG Indexical, with a little help from H.M.“ (2006) als deutsche Erstaufführung und „RoS Indexical“ (2007) als Welturaufführung. Nach drei Jahrzehnten choreografischer Abstinenz, in denen Rainer etliche Filme gedreht hat, unterzieht sie neuerdings Tanzstücke, die Geschichte geschrieben haben - wie den Balanchine-Klassiker „Agon“ von 1957 und die skandalumwitterte Uraufführung von „Le Sacre du Printemps“ aus dem Jahr 1913 - einer Revision. Sie bürstet die konventionelle Tanzästhetik mit feministischer Lust gegen den Strich und reiht sich 73-jährig und noch immer sportlich besohlt in eine Tradition der Avantgarde ein. „I’m a Dadaist“ outet sich Rainer beim Pressegespräch lachend und bekundet bei der anschließenden Lunch-Lecture wiederholt ihr historisches Interesse. Nicht nur am Tanz, sondern auch an der Bildenden Kunst. Als Referenzen nennt sie Munch, Duchamp, die Futuristen und Dada. Unterstützt von den Tänzerinnen Pat Catterson und Emily Coates gibt sie mit „Chair/Pillow” (1969) eine Kostprobe ihres Frühwerks, schlichte Bewegungen kommentieren lakonisch-ironisch den Hit „River Deep Mountain High” von Ike und Tina Turner. Im Publikum sitzen etliche Profitänzer, die an Fragen zu Tanztechnik und Virtuosität im Zusammenhang mit einer demokratisierten Aufführungspraxis interessiert sind.

Die geistige Verwandtschaft des postmodernen Tanzes zu Beuys wird spürbar. „Jeder Mensch ein Künstler“ und die „Gesellschaft als soziale Plastik“, für die Bildende Kunst in den 60er und 70er Jahren ein Novum, klingt das Diktum für Tänzer nach einem paraphrasierten Satz von Rudolf Laban, dem bereits im zweiten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts die Utopie „Jeder Mensch ein Tänzer“ vorschwebte.

Überträgt man das gedankenspielerisch auf Kassel, dann kommen zu den 40 Profitänzern die 754.301 zahlenden Gäste, die 4.390 Fachbesucher, die 15.537 Journalisten, Ai Weiwei’s 1000 Chinesen und last not least die 109 Künstler - unter denen sich mit Iole de Freitas und Luis Jacob zwei zur Plastik und Konzeptkunst konvertierte Ex-Tänzer befinden (deren schwungvolle Dynamik einerseits und dessen akribische, frei assoziative Sammelleidenschaft andererseits tänzerische Bewegung in die Festung der Bildenden Kunst schleusen) - minus Ferran Adrià, der ja in seiner heimischen Küche in Spanien geblieben ist. Das wären 775.336 Tänzerinnen und Tänzer, die jeweils ihren eigenen Parcours zwischen den Ausstellungsorten ablaufen, hin- und herwandern zwischen den Exponaten, sich strecken, um über die Köpfe anderer Besucher hinweg ein Foto zu schießen oder auf der Suche nach dem besten Motiv eine Skulptur mehrfach umkreisen - eine 100-tägige Choreografie und ein gigantisches Stück Konzeptkunst.

So viel Tanz wie bei Buergel/Noack war nie, wiewohl schon frühere Documenta-Chefs mit dem Tanz geliebäugelt hatten. Jan Hoet hat beispielsweise 1992 als Logo der Documenta 9 einen schwarzen und einen weißen Schwan der Ballettwelt entliehen. Sein künstlerischer Ziehsohn Jan Fabre, ursprünglich Bildender Künstler, gern auch als Choreograf unterwegs, brachte aber keine trippelnden Schwäne nach Kassel, sondern erregierte Plastikpimmel, die wie Multiples überall im Fridericianum die Wände zierten - nicht lange, war das Objekt doch ein begehrtes Souvenir. Hoet wollte aber nicht ganz aufs Trippeln verzichten und gab den Ring frei für die Kunst des Dribbelns beim Boxen – was übrigens auch Hoets Hobby ist.

In die Performancereihe der zehnten Documenta unter der Ägide von Catherine David hatte sich eine Tänzerin verirrt. Quasi ein Joker der Ausstellungsmacher ist die Konzeptkünstlerin Joan Jonas (*1936) aus New York. Sie wurde 1977 von Manfred Schneckenburger zur sechsten, 1982 von Rudi Fuchs zur siebenten und von Okwui Enwezor 2002 zur elften Documenta eingeladen. Von Hause aus Kunsthistorikerin und Bildhauerin, hat sie ihr Ausdrucksspektrum mittels Tanzunterricht zur Zeit ihrer ersten, öffentlichen Performances vervollkommnet - Ironie des Schicksals, ihre Tanz- und Improvisationslehrerinnen sind Trisha Brown und Yvonne Rainer. Schön, dass mit dieser 12. Documenta der Tanz im Kontext der zeitgenössischen Kunst einen Platz gefunden hat. Für Tänzer war es die beste aller Documenten und alles andere als eine Katastrophe.

Link: www.documenta12.de
 

 

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