Zwischen Allmacht und Extase

Zweimal „Sacre du Prinptemps” bei Tanz im August – von Xavier Le Roy und Yvonne Rainer

Berlin, 24/08/2007

Der Umgang mit Musik war schon immer eines der zentralen Themen des Tanzes. Wie man klangliche Strukturen in Bewegung übersetzt, wie man ihnen folgt oder gegen sie arbeitet und dabei ihren emotionalen und narrativen Gehalt kommentiert, transportiert oder zerstückelt, war bei Tanz im August in den Eröffnungsstücken von Anne Teresa de Keersmaeker und Edouard Lock eindrucksvoll zu beobachten. Xavier Le Roy hat diese Fragestellung nun umgekehrt und die Figur des Dirigenten, also quasi des „Hervorbringers” von Musik, ins Zentrum seiner neuesten Arbeit gestellt. Das Verfahren ist dabei so einfach wie genial. Anhand eines Probenvideos der Berliner Philharmoniker, die unter der Leitung von Sir Simon Rattle Strawinskis „Le Sacre du Printemps” einstudieren, hat sich der französische Konzept-Choreograf die Körpersprache des berühmten Orchesterleiters Geste für Geste angeeignet und stellt sie nun in den Kontext einer Tanzaufführung.

Obwohl man weiß, dass der schlaksige Körper, der dort auf der Bühne eindringlich mit den Armen wedelt, die Fäuste ballt und sich in zunehmender Extase verkrampft, vollkommen unabhängig von Strawinskis Musik existiert, die zeitgleich aus einem subtil arrangierten Lautsprechersystem durch den Raum dringt, ist man als Zuschauer außerstande, die beiden getrennt voneinander zu denken. Je länger die 45 Minuten der Aufführung fortschreiten, desto mehr verschieben sich die Bezüge. Oft wirkt es tatsächlich, als brächte Le Roy mit einem Wink, einer flehenden Handbewegung Klänge hervor – dann wieder scheint sein Körper wie ein Schwamm, der sich so lange mit der Musik vollsaugt, bis er sich in Sprüngen, Grimassen und exzentrischen Armbewegungen entladen muss.

So sehr der theoretische Überbau des Abends mit seinen Fragen nach Repräsentation, Autorenschaft und dem Autoritätsverhältnis zwischen Künstler und Publikum an jeder Stelle spürbar ist, so stark ist auf der anderen Seite die sinnliche Qualität der Aufführung. Getrieben von Strawinskis immer entfesselteren Rhythmen verwandelt sich Le Roys Körper in ein Medium, das im Wechselspiel von Macht und passivem Hingerissensein hin- und hergeschleudert wird. Man kann dabei an schamanistische Rituale denken, oder auch an Slapstickfilme aus der Stummfilmära. Manchmal, wenn der Choreograf mit weit ausholenden Armbewegungen die Fülle eines Trommelwirbels anregt oder illustrieren will, fühlt man sich gar an die Allmachtsgesten von Chaplins „Großem Diktator” erinnert.

Den Kritikern, die dem sogenannten „Konzepttanz” Ideenlosigkeit, technische Inkompetenz und das Fehlen von Emotionen vorwerfen, sei der Besuch von Le Roys „Sacre” dringend empfohlen. Die minutiöse Kleinarbeit bei der Aneignung von Bewegungsmaterial, der hellsichtige Umgang mit gängigen Aufführungskonventionen, die schonungslose Konsequenz bei der Durchführung – und nicht zuletzt eine große Portion selbstironischen Humors – verleihen der Arbeit eine archaische Gewalt, auf die vermutlich sogar Strawinski selbst stolz gewesen wäre.

Ein ähnlich vehementer Umgang mit dem „Sacre” war am selben Abend kurz zuvor bei Yvonne Rainer zu beobachten gewesen. Aus Fragmenten eines Dokumentarfilms über den Skandal bei der Uraufführung des Balletts, ironischen Zitaten von Diaghilevs schockierend wuchtiger Choreografie und der kollektiven Extase von Sportveranstaltungen schuf die Pionierin des Postmodern Dance einen selbstbewussten Pas de quatre für vier Tänzerinnen, die in ihrer eckigen Eigensinnigkeit sämtliche Klischees von jungfräulicher Opferbereitschaft in den Boden stampften.

Obwohl mehr als eine Generation die Arbeiten von Xavier Le Roy und Yvonne Rainer trennt, haben sie eines gemeinsam: Die radikale Fähigkeit, einer intellektuellen Fragestellung körperliche Gestalt zu verleihen, die mehr ist als die bloße Illustration eines Konzepts. Und damit hat der Tanz im August seinen bisherigen Höhepunkt erreicht.

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