„Eroica/Sacre“ am Tanztheater Münster

Eine Menschheitsutopie und ihr Dementi

Am Theater Münster hat Tanzdirektorin Lillian Stillwell den spannungsreichen Doppel-Tanzabend „Eroica/Sacre“ mit Orchester konzipiert.

Lillian Stillwell steuert mit der Uraufführung „Sexes“ zu Ludwig van Beethovens 3. Symphonie „Eroica“ von 1803 einen Klassiker bei. Edward Clug bringt zu Igor Strawinskys noch immer aufwühlend modernem „Sacre du Printemps“ von 1913 seine 2012 uraufgeführte Choreografie ein. „Sacre“ erweist sich dabei weniger als Gegenstück zu „Sexes“, vielmehr als dessen Dementi.

Münster, 28/03/2024

Von Hanns Butterhof

In „Sexes“ geht es Lillian Stillwell um Macht und Sexualität. Ausgehend von der später von Beethoven widerrufenen Widmung seiner Symphonie „auf Buonaparte“ stellt die Choreografin Napoleon und seine Frau Josephine in den Rahmen der Französischen Revolution von 1789 und ihre umfassenden, aber nicht eingelösten Freiheitsversprechen.

Doch davor setzt Stillwell ein Zeichen dafür, dass „Sexes“ nicht im luftleeren Raum spielt: Wenn sich der Theatervorhang hebt und den Blick auf einen zweiten Vorhang freigibt, tritt der Tänzer Enrique Sáez Martinez im Frack eines Dirigenten in die Bühnenmitte. Er gibt dem Orchester den Einsatz zum ersten Satz und dirigiert es mit den weit ausholenden Armbewegungen und selbstverliebten Pirouetten eines stolzen Maestros. Dann tritt eine ebenso kostümierte Tänzerin Aline Serrano an seine Stelle, die das Dirigat mit fließenderen Bewegungen fortführt, ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Chefdirigenten auch am Theater Münster nicht für immer Männer sein müssen und das Geschlechter-Thema von „Sexes“ auch auf das eigene Haus bezogen ist.

Nach diesem Statement öffnet sich zum zweiten Satz auch der zweite Theatervorhang und gibt den Blick auf einen dritten frei, der in festlichem Rot leuchtet und mit goldenen Applikationen herrschaftlich gekennzeichnet ist. Damit beginnt die eigentliche Geschichte, die Stillwell in „Sexes“ erzählt: die Beziehung Napoleon Bonapartes und seiner Frau Josephine, die im Verlauf des Stücks zugunsten der Französischen Revolution in den Hintergrund rückt. Deren befreienden Impuls markieren in langen roten Kleidern (Kostüme: Louise Flanagan) sechs Tänzerinnen, die sich mit sechs Tänzern harmonisch zu Paaren mit weiten Sprüngen und ausgelassenen Hebungen finden. Enrique Sáez Martinez ist jetzt der junge Napoleon, der alle küsst und dann innig mit der jetzt Josephine darstellenden Aline Serrano tanzt. Die zieht ihm erst lustvoll den Frack aus und ihn dann fantasiebeflügelnd hinter den Prunkvorhang; ein gleichwertiges, energiegeladenes Paar.

Als sich dann zum Trauermarsch des zweiten Satzes auch dieser Vorhang hebt, windet und reckt sich das Ensemble wie von den Toten auferstanden aus und unter abstrakten Kuben (Bühne: Stella Sattler & Jonathan Brügmann) hervor, die Tänzerinnen in lockeren roten Zweiteilern, die Tänzer mit freien Oberkörpern. Hier verschiebt Stillwell den Aspekt von der Trauer auf die Freude nach der Befreiung durch die Revolution. Alle wirbeln angeregt durcheinander, bilden dann Paare, die schließlich in turnerisch gebändigten Bewegungen orgiastisch zu einander finden.

Doch im Scherzo des dritten Satzes währt der paradiesische Zustand nicht lange. Aline Serrano beobachtet als Josephine das Geschehen von der Seite, während Enrique Sáez Martinez als Napoleon auf eines der Bühnenelemente steigt und von oben herab Uniformröcke verteilt; er will die Macht. Stampfen, Drill, Mechanik beherrschen die Bewegungen, es wird gerannt, gerobbt und gestürzt, in den Kriegen des Kaisers fallen seine Soldaten und erstirbt der revolutionäre Schwung. Auch Siege schaffen nur kurz Frieden, den das Ensemble noch einmal ausgelassen  feiert, doch nach dem Krieg ist vor dem Krieg.

Mit schnellen Sprüngen über die Bühne setzt das Finale des vierten Satzes dem pessimistischen historischen Befund, dass die Revolution nicht die Männermacht gebrochen hat, eine getanzte Utopie entgegen. Paare finden sich, alle Geschlechterschemata und -kämpfe hinter sich lassend, und verweisen hoffnungsfroh in eine herrschaftsfreie Zukunft.

Atmosphärenwechsel mit Clug

Zu  Edward Clugs „Sacre du Printemps“ ändert sich die Atmosphäre vollständig. Auf der sehr dunklen, bis auf einen schmalen Hoffnungsstreifen im Hintergrund leeren Bühne (Bühne: Marko Japelj) bewegt sich das Ensemble in erdfarbenen Trikots (Kostüme: Leo Kulaš), die Körper lehmig grau. Es ist nicht mehr die fröhlich wimmelnde, befreite Schar, sondern eine bedroht-bedrohliche Masse, ein synchron agierendes Kollektiv ohne erkennbaren persönlichen Ausdruck, ohne weisen Alten, ohne Zeit und Ort. Die je sechs Tänzerinnen und Tänzer halten sich gerade, bewegen sich eckig, manchmal knicken sie wie unter einer schweren Last ein, wohl dem Leben.

Es sind dann die Frauen, die eine von ihnen (Nadja Simchen) umkreisen, die dann isoliert in ihrer Mitte steht, widerstandslos, als wisse sie um sich als das geborene Opfer zur Besänftigung einer höheren Macht. Vieleicht ist es die Frau, die immer das Opfer ist; ein gemeinsamer Tanz legt das nahe, in dem die Männer die Frauen dynamisch hochheben und oben, wie auf einem Präsentierteller, zur Schau stellen.

Die spektakulärste Szene wiederholt diese Konstellation in veränderter Form: Als hätte das Ritual seinen Zweck erfüllt, wird der Hoffnungsstreifen von einem schwarzen Vorhang verdeckt, und in schweren Fontänen stürzt Wasser vom Schnürboden. Auf der sich bildenden Wasserfläche drehen und schieben die Tänzer wie auf glattem Eis widerstandslos die zu reinen Objekten degradierten Tänzerinnen.

Um das Opfer formt das Ensemble ein Karree wie ein Gefängnis, das Nadja Simchen ohne Hoffnung innen abschreitet. Und während der erbarmungslose Pulk immer bedrohlicher auf sie zurückt, tanzt sie ergreifend einverständig ruhig in ihren Opfertod. Ihre Leiche wird nicht versöhnlich im Schoß der Erde geborgen, sondern über das Wasser weggeschubst, entsorgt ohne Zeichen von Trauer oder Schuld – ein Bild ur-menschlicher Unmenschlichkeit, das am Ende des Tanzabends die hoffnungsfrohe Utopie von „Sexes“ dementiert.

Lillian Stillwell und Edward Clug haben sich in ihren Choreografien sehr genau an die musikalischen Vorgaben gehalten, die Rhythmik, bei Stillwell auch besonders die melodischen Angebote der Partitur aufgenommen. 

So gelten der Jubel und die Standing Ovations nach zwei Stunden spannenden Tanzes neben den Solist*innen Aline Serrano und Enrique Sáez Martinez und dem bewundernswert die verschiedenen Choreografie-Stile meisternden Ensemble von Lukas Bisculm, Amanda Cruz Portuondo, Yoh Ebihara, Hana Kato, Bartlomiej Kowalczyk, Juan Fernando Morales Londoño, Hera Norin, Mirjam Motzke, Nadja Simchen und Jack Widdowson sowie Silja Egelund Ellebye, Chun-Wei Peng vom Tanz Münsterstudio auch dem ein prächtiges Symphoniekonzert darbietenden Sinfonieorchester Münster unter Leitung von Henning Ehlert.

 

 

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