„Manon“ an der Pariser Oper: Myriam Ould-Braham als Manon und Mathieu Ganio als Des Grieux„Manon“ an der Pariser Oper: Myriam Ould-Braham als Manon und Mathieu Ganio als Des Grieux

„Manon“ an der Pariser Oper: Myriam Ould-Braham als Manon und Mathieu Ganio als Des Grieux

Großartiges spätes Rollendebüt

Myriam Ould-Braham erstmals in Kenneth MacMillans „Manon“ an der Pariser Oper

Nach der ersten und letzten „Manon“ mit Myriam Ould-Braham und Mathieu Ganio fragt man sich angesichts des strengen Rentenalters an der Pariser Oper: muss das schon das Ende sein?

Paris, 22/06/2023

Seit 2015 war an der Pariser Oper kein Handlungsballett von Kenneth MacMillan zu sehen. Diese Spielzeit gab es derer gleich zwei, „Mayerling“, das erstmals im Palais Garnier gezeigt wurde, und „Manon“, das schon seit 1990 im Repertoire der Kompanie ist. Dort wird das Ballett unter dem Titel „L’Histoire de Manon“ aufgeführt.
Trotz der Unterschiede der Stücke – in „Manon“ liegt der Schwerpunkt auf der weiblichen Hauptfigur und deren Psyche, und das Leiden der Protagonisten wird von Momenten der Harmonie unterbrochen, während MacMillan in „Mayerling“ eine unerbittliche Spirale in den Abgrund zeichnet – sind die Zutaten der beiden Ballette ähnlich. In beiden wird Erotik und Gewalt auf explizite Weise dargestellt. MacMillan ist für seinen extremen Realismus bekannt, der oft ins Hochtheatralische verfällt. In beiden Balletten versteckt oberflächlicher Glanz die psychische und moralische Misere der Figuren. Die Pas de deux der Protagonisten bilden das Herz beider Ballette, während das sie umgebende Milieu in nicht enden wollenden Ensembleszenen gezeichnet wird, von denen man gerne weniger sehen würde. Wie „Mayerling“ wurde „Manon“ von Karl Burnett einstudiert – ob es an ihm liegt, dass die erotischen Szenen in beiden Balletten von Serie und Serie immer vulgärer werden (wobei die Choreographie unübersehbar verändert wird) und wirklich nichts mehr der Phantasie überlassen?
Die Geschichte der Manon Lescaut, die zwischen ihrer Liebe zum Seminaristen Des Grieux und dem Luxus schwankt, den ihr reichere Verehrer bieten, spielt sich in einer Halbwelt ab, in der ständig Vertreter*innen aller Milieus zusammentreffen. Manons skrupelloser Bruder Lescaut treibt sich mit Banditen herum und verkauft seine Schwester an den Meistbietenden, Kurtisanen schmücken sich wie Damen der feinen Gesellschaft, und Adelige vergnügen sich mit den bei MacMillan unvermeidbaren Prostituierten in krausen Perücken. In dieser bedrückenden Welt erscheinen der unschuldige Des Grieux, der nur Augen für seine Bücher hat, und die strahlende Manon, die ihn schnell von diesen abzulenken weiß, zunächst wie zwei Wesen aus einer anderen Welt, bevor auch sie der Korruption ihrer Umgebung zum Opfer fallen.
Nachdem die Premiere von „Manon“ aufgrund eines spontanen und unerklärten Streiks ausfiel, tanzte das Paar der Zweitbesetzung die erste Vorstellung: Myriam Ould-Braham und Mathieu Ganio. Ould-Braham gab ein Jahr vor dem offiziellen Rentenalter der Pariser Oper, das bei 42,5 Jahren liegt, ein unvergessliches Rollendebüt in MacMillans Ballett. Die sylphengleiche, äußerst grazile Ould-Braham passte sowohl tänzerisch als auch schauspielerisch perfekt zu dem eleganten Ganio, der für die Rolle des Des Grieux wie geschaffen ist. Anstelle einer femme fatale, wie sie beispielsweise Aurélie Dupont in der letzten Vorstellungsreihe verkörperte, spielte Ould-Braham Manon als leidenschaftlich in Des Grieux verliebte Frau. Die reichen Geschenke des Monsieur G.M. (Florimond Lorieux) und ihr von Pablo Legasa recht arrogant und unsympathisch porträtierter Bruder verleiten sie zwar dazu, ihre Verführungskünste beinahe spielerisch an G.M. zu erproben, doch folgt sie diesem nur mit Zögern. In der Bordellszene gelingt es ihr beim Anblick von Des Grieux kaum, ihre Rolle als schillernde Kurtisane zu spielen. Ganio, der bereits als Kronprinz Rudolf in „Mayerling“ Mitgefühl für seine Figur zu erwecken wusste, gab einen bewegenden, ganz in seiner Liebe aufgehenden Des Grieux, ohne in übertriebene Dramatik zu verfallen. Besonders im letzten Akt, in dem Manon nach Amerika verschleppt wird und schließlich in den Armen ihres Geliebten stirbt, sieht man die bedingungslose Hingabe der Protagonisten, die an Romeo und Julia erinnerten.
Nach dieser Vorstellung, die zweifelsohne die letzte „Manon“ der beiden Étoiles sein wird (Ganio wird in drei Jahren ebenfalls in Rente gehen), fragt man sich wie so oft nach den Abschiedsvorstellungen großer Pariser Tänzer: muss das schon das Ende sein? Glücklicherweise verspricht die Aufführungsserie, in sechs weiteren Besetzungen mit einigen Rollendebüts noch andere Talente in der Kompanie zu enthüllen – wenn nur nicht wieder ein Streik dazwischen kommt!

Besuchte Vorstellung: 21. Juni 2023
www.operadeparis.fr

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