MacMillans kreative Muse

Interview mit Lady MacMillan

Paris, 18/05/2012

Deborah MacMillan (geborene Williams) ist eine Malerin australischer Herkunft. Sie lernte Kenneth MacMillan 1971 kennen und lebte über 20 Jahre mit ihm zusammen, bis zu seinem Tod im Jahr 1992. Seither verwaltet sie sorgfältig das Erbe ihres Ehemannes. In diesem Interview, das kurz vor der Wiederaufnahme von „Manon” an der Pariser Oper geführt wurde, spricht sie über Kenneth MacMillans Arbeit und darüber, wie seine Werke immer wieder zu neuem Leben erweckt werden.

Redaktion: Clement Crisp sagte einmal zu Kenneth MacMillan: „Ihre Figuren existieren noch, nachdem der Vorhang gefallen ist, sie leben weiter. Sie leben in unseren Herzen, sie leben in unseren Köpfen, genau wie sie in der Choreografie leben.“ Woher kommt das Ihrer Ansicht nach?

Deborah MacMillan: Ich denke, Kenneth hatte ein übersprudelndes Talent dafür, Bewegungen zu schaffen, die ohne erklärende Worte auskamen. Kenneth drückte sich mit Worten nicht sehr deutlich aus, er war sehr ruhig. Er sagte manchmal wirklich faszinierende Dinge, aber er war kein sehr gewandter Gesprächspartner. Deswegen wurde die Sprache des Tanzes sein Ausdrucksmittel. Er hatte immer eine Idee in seinem Kopf und solange er noch nicht die Bewegungen gefunden hatte, die mit dieser Idee übereinstimmten, wies er alles zurück. Ich sah ihm manchmal beim Choreografieren zu, beispielsweise bei den Proben zu „Different Drummer“, „Mein Bruder, meine Schwestern“ und „Requiem“, und es hat mich immer erstaunt. Oft schufen die Tänzer sehr schöne Formen und ich nahm an, Kenneth würde sie behalten, aber er lehnte strikt alles ab. Daher glaube ich, er hatte immer eine sehr klare Idee von der Geschichte, die er erzählen wollte. Für ihn war Bewegung ein Mittel zum Zweck; sie war kein Selbstzweck. Sie kann leicht zum Selbstzweck werden, weil das Publikum sich an die Schönheit einer Form erinnert, was gewiss durch Poster und Photographien mit schönen Posen noch verstärkt wird. Aber für Kenneth war Tanz eine Sprache, die er verwendete, um eine wichtigere Geschichte zu erzählen. Meiner Meinung nach transzendieren alle sehr starken Ballette die Sprache.

Redaktion: Vielleicht kommt der starke Eindruck, den die Geschichte auf das Publikum macht, auch von der Art der Figuren, die er porträtiert? Viele von ihnen sind nicht sehr balletttypisch…

Deborah MacMillan​​​​​​​: In der Tat sieht man heute manchmal junge Tänzerinnen, die Kenneth nicht kannten und für die es sehr schwer ist, keine Ballerinas zu sein. Wenn Julia stirbt, sollte sie wirklich nicht wie eine Ballerina sterben – sie ist ein gebrochenes Mädchen, die sich ersticht. Das zu zeigen, hat Kenneth immer mehr interessiert als zu wissen, ob ihre Füße gestreckt waren, obwohl die Technik natürlich ein entscheidendes Werkzeug ist. Aber manchmal verlangte er von seinen Tänzern, sie sollten die Technik vergessen und etwas tun, was dramatisch sinnvoller war. Manche Tänzer finden das schwierig.

Redaktion: Wer oder was hat ihn beeinflusst?

Deborah MacMillan​​​​​​​: Er wurde sehr geprägt dadurch, dass er im Krieg aufgewachsen war, während dem viele schreckliche Dinge passiert waren. Er verlor seine Mutter, was meiner Meinung nach sein ganzes Leben lang ein emotionales Problem für ihn war; er war chronisch depressiv. Nach dem Krieg sind in England dann sehr viele neue Dinge passiert. Das Kino war unglaublich wichtig für ihn, weil es eine Fluchtmöglichkeit war. Gleichzeitig warfen John Osborne und andere Nachkriegsschriftsteller alle Vorkriegsideen im Theater über Bord. Es war eine sehr aufregende Zeit. Kenneth war ein sehr guter Freund von John Osborne und geriet so in eine interessante Gruppe von Intellektuellen.

Redaktion: Wie positionierte er sich gegenüber seinen Vorgängern, Ninette De Valois und Frederick Ashton?

Deborah MacMillan​​​​​​​: Frederick Ashton war der Gründerchoreograf des Royal Ballet. Kenneth bewunderte ihn, aber er wusste, dass er etwas völlig anderes machen musste, wenn er einen bleibenden Eindruck hinterlassen wollte. Ashtons Werke waren sehr höflich, sehr schön und klassisch, und Kenneth wollte wohl in eine andere Richtung gehen. Ich denke nicht, dass es eine bewusste Entscheidung war, es passierte einfach.

Redaktion: Wie war seine Beziehung zu John Cranko?

Deborah MacMillan​​​​​​​: John und Kenneth waren sehr gute Freunde; John nahm ihn unter seine Fittiche. Als Kenneth anfing, sehr schlimme Bühnenangst zu bekommen, schlug John ihm vor, mit ihm für eine Sommersaison ins Kenton Theatre zu kommen. Er bat ihn, mitzumachen und ein kurzes Ballett zu choreografieren. John ermutigte ihn und Kenneth schätzte John sehr; er hielt ihn für ein unglaubliches Talent. Jahre später, als Kenneth „Lied von der Erde“ schaffen wollte und die Direktion des Royal Opera House das Projekt zurückwies, rief er John an. Kenneth erklärte, was er vorhatte, und John antwortete: ‚Komm und choreografier es für uns!’ Das schuf sofort eine Arbeitsbeziehung, in der Kenneth sich sicher fühlte. Das Gleiche passierte mit „Requiem“, und dann bald danach choreografierte er „Mein Bruder, meine Schwestern“. In Stuttgart waren die Tänzer Cranko eng verbunden und stark in den gesamten Schaffensprozess involviert. Kenneth konnte einfach da hineinschlüpfen und die Tänzer reagierten auf ihn auf dieselbe Weise. Zu dieser Zeit war Stuttgart eine sehr junge, aufwärts strebende, interessante Kompanie, auf der noch nicht der erdrückende Stempel der Bürokratie lastete – wie es beim Royal Ballet damals bereits der Fall war.

Redaktion: Hatte Kenneth MacMillan, als er Direktor der Deutschen Oper Berlin wurde, ebenfalls den Eindruck, er könne dort etwas Neues schaffen?

Deborah MacMillan​​​​​​​: Es gab dort nicht dieselben Möglichkeiten wie in Stuttgart. Als Kenneth nach Berlin kam, gab es dort bereits eine etablierte Kompanie, wohingegen John in Stuttgart etwas fast völlig Neues schuf. Obwohl es dort auch eine Ballettkompanie gab, baute Cranko fast aus dem Nichts etwas auf, wohingegen Kenneth auf einer bereits existierenden Arbeit aufbaute. Während seiner Zeit in Berlin schuf Kenneth ein neues „Dornröschen“, ein riesiges Projekt, und er choreografierte ein paar andere Ballette, zum Beispiel „Concerto”. Er ging auch nach Stuttgart, um „Fräulein Julie” zu choreografieren, was leider nicht in Notation festgehalten wurde. Während dieser Zeit gab es Probleme zwischen ihm und Cranko, es gab eine Art Drama zwischen den beiden. Ich kannte Kenneth damals noch nicht, aber er erzählte mir später, es sei eine sehr unglückliche Zeit gewesen; er trank sehr viel und wurde ziemlich krank. Trotzdem war es gut für ihn, diese Erfahrung als Direktor zu sammeln.

Redaktion: Woher kam Ihrer Meinung nach sein Interesse für das abendfüllende Handlungsballett?

Deborah MacMillan​​​​​​​: Zuerst einmal hatte er gewiss ein Auge auf den Kassenerfolg. Darüber hinaus wurde er sehr früh Direktor einer Kompanie und war sich bewusst, dass er Rollen für alle Tänzer des Ensembles schaffen musste. Solange er Direktor war, versuchte er immer, Ballette zu kreieren, in denen die ganze Kompanie etwas zu tun hatte. Als er später dann seinen Direktorposten aufgab, hatte er viel mehr Freiheit, Werke zu schaffen, die nicht unbedingt allen eine Rolle gaben. Er schnitt und komprimierte auch im Nachhinein viele der Ballette, die er als Direktor choreografiert hatte.

Abendfüllende Handlungsballette sind immer noch große Kassenerfolge. Es ärgert mich sogar ein wenig, dass das Royal Opera House fast ausschließlich „Romeo und Julia“, „Manon“ und „Mayerling“ zeigt, obwohl Kenneth auch viele interessante Einakter geschaffen hat. Aber es heißt dann immer, man könne Einakter nicht verkaufen. Ich denke, man könnte es, wenn man es versuchte.
Aber natürlich gibt es immer ein großes Publikum für Geschichten. Im Kino beispielsweise sind die erfolgreichsten Filme immer die mit den großen opernhaften Geschichten, bei denen viel Geld dafür ausgegeben wurde, die Geschichte zum Leben zu erwecken, sei es durch Animation, großartige Schauspieler oder andere Mittel. Wir erzählen einander immer unsere Geschichten, das gehört zur menschlichen Natur.

Redaktion: Hat sich Kenneth MacMillan besonders für Literatur interessiert?

Deborah MacMillan​​​​​​​: Ja, er las die ganze Zeit. Kenneth war ein völliger Autodidakt: er hatte die Schule mit 14 verlassen und war sich sehr bewusst, dass er keine gute Basisbildung hatte. Später im Leben las er sehr viel. Ich finde Menschen, die sich selbst bilden, sind immer interessant.

Redaktion: In Jann Parrys MacMillan-Biografie „Different Drummer“ steht, die Idee zu „Manon“ sei von Jean-Pierre Gasquet gekommen, der sie zuerst Ashton und dann MacMillan angeboten habe. Ist das korrekt?

Deborah MacMillan​​​​​​​: Jean-Pierre Gasquet behauptet, die Idee käme von ihm; ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich denke, es war einfach eines der Bücher, die er gelesen hatte. Kenneth schuf „Manon“ nach „Anastasia“, einem faszinierenden Ballett mit Musik von Tschaikowsky und Martinu. „Anastasia“, dessen dritter Akt in einem Sanatorium spielte, sprengte damals jede Form, die Kritiker verrissen es und Kenneth war sehr deprimiert. Deswegen beschloss er, ein Ballett zu schaffen, das die Kompanie in einem vorteilhaften Licht zeigen sollte und stärker den Grundstrukturen des klassischen Balletts entspräche. „Manon“ hat drei Akte und es gibt Ensembleszenen, Solos und Pas de deux. Er sagte zu mir, es passe viel besser in die Tradition des 19. Jahrhunderts als „Anastasia“.

Redaktion: Wie hat er „Manon“ choreografiert?

Deborah MacMillan​​​​​​​: Kenneth fing stets mit den Pas de deux an: er sagte immer, das seien die Juwelen und alles andere müsse sie stützen. Es sind Höhen, die man erreichen muss und von denen man wieder herunterkommt. Für ihn war „Dornröschen“ immer der Grundpfeiler des Repertoires und er nützte dieses Ballett als Schablone dafür, wie lang jedes einzelne Stück sein sollte. Er sah „Dornröschen“ als ein Modell für die Länge von Pas de deux, von Solos, von Divertissements.
Unvermeidlicherweise war das Werk am Tag der Uraufführung noch nicht ganz vollendet. Das passiert im Ballett ständig, da es keine Vorpremieren gibt wie im Theater. Die Generalprobe war für die Freunde von Covent Garden geöffnet. Kenneth war immer gegen öffentliche Generalproben, aber dieses Mal änderte er seine Meinung. Vor der Generalprobe kam er nachhause und sagte: ‚Ich glaube nicht, dass der „betrunkene“ Pas de deux funktioniert. Ich werde ihn herausschneiden müssen, aber das geht erst nach der Generalprobe, also muss er dem Publikum gezeigt werden und ich mache mir ernsthafte Sorgen.’ Die Zuschauer aber klatschten nach dem Pas de deux so sehr, dass es die Vorstellung unterbrach. Als er von der Probe zurückkam, sagte Kenneth: ‚Ich werde ihn doch nicht herausschneiden.’ Aber zu diesem Schluss kam er erst, als das Stück dem Publikum gezeigt wurde. Deswegen ist es schade, dass Ballettkompanien nicht ein paar Wochen lang vor der Premiere öffentliche Vorstellungen zeigen können. Da sie immer in Opernhäusern sind, geht das nicht.

Nach ein paar Vorstellungen wurde Kenneth klar, dass sein Szenario zu ausführlich war. Er hatte beispielsweise versucht, Georgina Parkinson eine Rolle als Geliebte des Aufsehers zu geben, aber dann erkannte er, dass es nicht wirklich sinnvoll war, so kurz vor dem Ende noch eine weitere Figur einzuführen. Ich selbst habe die Hafenszene zu Beginn des dritten Aktes etwas gekürzt. Ganz am Anfang gab es da eine Szene, in der die Männer herumhüpften; die haben wir gestrichen und fangen jetzt direkt mit den Mädchen an, die auf das Publikum zukommen. Ich denke, das passt besser, weil man an diesem Punkt einfach mit der Handlung vorankommen muss. Aber solche Dinge geschehen nach langer Zeit. Oft hat man beim Choreografieren keine Zeit zu schneiden.

Redaktion: Wo schuf Kenneth MacMillan seine Choreografien, zuhause oder im Ballettsaal?

Deborah MacMillan​​​​​​​: Kenneth erfand die Schritte immer im Ballettsaal. Zuhause hörte er die Musik, bis er sie rückwärts kannte. Das hat mich immer zum Wahnsinn getrieben, da es vor der Zeit der eigenen Stereoanlagen war und er sich dieselbe Musik immer und immer und immer wieder anhörte! Wenn er das Ballett dann choreografiert hatte, wollte er keine einzige Note der Musik je wieder hören. In der Zwischenzeit hatte ich mich daran gewöhnt und hörte sie gerne manchmal wieder, aber Kenneth schrie: schalt das aus!

Redaktion: Gab Kenneth MacMillan den Tänzern klare Anweisungen, wie sie ihre Rollen interpretieren sollten oder gab er ihnen große Freiheit, ihre eigene Interpretation zu finden?

Deborah MacMillan​​​​​​​: Wenn die Choreografie einmal fertig ist, und die Tänzer sind ein Teil dieses Prozesses, dann gibt es Schritte, die in Benesh-Notation aufgeschrieben sind. Aber natürlich will man keine genauen Kopien; man will nicht, dass ein Tänzer ein Video so sehr verinnerlicht hat, dass er bis zum Heben der Augenbrauen jemand anderen imitiert. Ich denke, einer der Gründe, warum „Manon“ immer noch überlebt und warum so viele Kompanien es tanzen wollen ist, dass das Stück Tänzern die Chance gibt, sich in ihren Rollen zu entwickeln.

Tänzer sind wie Musiker: sie spielen die Noten, aber sie werden sie immer anders spielen als jemand anders, der dieselben Noten spielt. Deswegen ist die Interpretation einer Rolle immer etwas Persönliches. Ich denke, dieses Ballett überlebt, weil die Tänzer in ihren Rollen Spielraum haben, und das macht es interessant für ein ballettliebendes Publikum, das viele verschiedene Besetzungen sehen will.

Redaktion: Wie gehen Sie vor, wenn eines von Kenneth MacMillans Balletten heute wiederaufgenommen wird?

Deborah MacMillan​​​​​​​: Zuerst einmal sende ich jemanden in die Kompanie, normalerweise einen Choreologen. Wenn dieser meint, er könne das Ballett mit der Kompanie einstudieren und Ideen für die Besetzungen hat, dann bespricht er diese mit dem künstlerischen Leiter und versucht, sich mit diesem einig zu werden.
Da ich von meiner Ausbildung her Malerin bin, kümmere ich mich meist etwas um das Bühnenbild. So habe ich beispielsweise John B. Reed eingeladen, „Manon“ in Paris zu beleuchten, und er sagte, alle weißen Hemden seien zu weiß, zu strahlend. Also ging ich in die Garderobe und bat darum, die Hemden ein wenig matter zu färben, da man sonst nicht genug Licht auf Manon bekam, ohne dass sie aufflackerten. Auch in der Sumpfszene habe ich am Bühnenbild einige Anpassungen vorgenommen. Ich denke, der optische Eindruck der Ausstattung ist wichtig, weil der normale Zuschauer das am meisten sieht.

Redaktion: Was ist noch wichtig, damit das Ballett authentisch wirkt?

Deborah MacMillan​​​​​​​: Alle Elemente sind wichtig, die Beleuchtung, der ganze dramatische Aufwand und die Art, wie das Bühnenbild gepflegt wird. Ich habe einigen Kompanien „Manon“ wieder weggenommen, weil es einfach nicht gut instand gehalten wird, wenn die Standards nicht eingehalten oder gar die Choreografie verändert wird. In dieser Hinsicht bin ich sehr empfindlich. Man kann es natürlich nicht vollkommen kontrollieren, aber man kann die Leute wissen lassen, dass man reagieren wird, wenn das Ballett leidet. Aber im Ganzen versuchen die meisten Kompanien meines Wissens, Kenneths Werke entsprechend der Anweisungen der Choreologen zu tanzen, und sie bitten uns, zurückzukommen und es neu einzustudieren, was sehr gut ist.

Redaktion: Wie schafften es Ihrer Meinung nach MacMillan und Cranko, Geschichten ohne Worte zu erzählen, und warum scheint dies im Moment für jüngere Choreografen so schwierig?

Deborah MacMillan​​​​​​​: Wenn man jemandem eine Geschichte über etwas erzählt, was einem passiert ist, wählt man normalerweise Worte aus, die etwas bedeuten, um die Idee zu vermitteln. Viele Choreografen vergessen, dass ihre Schritte die Worte sind. Und nur weil sie eine schöne Pirouette schaffen oder etwas eine schöne Form macht, heißt das nicht unbedingt, dass einem das irgendetwas anderes sagt, als dass es eine schöne Form ist. Auch wenn Kenneth schlechte Kritiken hasste, da sie ihm das Leben schwer machten, trieb ihn außerdem immer irgendetwas an, weiterhin das zu tun, was er für richtig hielt.

Heutzutage sind junge Choreografen derart verpflichtet, gleich beim ersten Mal einen Erfolg zu landen, dass sie es kaum ertragen können, etwas zu riskieren. Sie wissen, dass sie keinen neuen Auftrag bekommen, wenn ihr Werk nicht gleich ein Erfolg ist. Außerdem denke ich, sie sollten lernen, nein zu sagen. Viele neue choreografische Hoffnungsträger bekommen zahlreiche Angebote und nehmen alle an. Kenneth lehnte eine Vielzahl von Angeboten ab, weil er zum Beispiel die Kompanie und die Tänzer nicht kannte und dachte, er würde es nicht schaffen.

Er arbeitete gerne mit Tänzern, die er kannte, und mit denen er gleich auf eine Wellenlänge kommen konnte. Vielleicht hat er das von Cranko gelernt, der genauso in Stuttgart arbeitete. Cranko hat einige großartige Werke mit seinen Tänzern geschaffen, die sozusagen seine Familie waren. Deswegen musste er nicht viel sagen, er musste sie nicht ganz neu kennenlernen. Sie wussten, wie er dachte und er wusste, wie sie dachten. Es gab kein Gefühl der Peinlichkeit zwischen ihnen und sie konnten im Ballettsaal einfach alles ausprobieren. Außerdem glaubten sie alle vollkommen an das, was dort geschaffen wurde, und das ist eine phantastische Art zu arbeiten. Wenn man andererseits nur für kurze Zeit mit einer Gruppe von neuen Tänzern arbeitet, muss man sich natürlich auf schön gedrehte Pirouetten und hübsche Formen verlassen. Das Publikum wird sich einen Moment lang freuen, die Kritiker werden sich freuen, da die Kunstform gewahrt wird, aber ich denke nicht, dass das Werk von Dauer sein wird.

Redaktion: Damals konnte man Ballette auch noch überarbeiten, wie z.B. Cranko es mit „Onegin” tat, nachdem er einige sehr schlechte Uraufführungskritiken bekommen hatte…

Deborah MacMillan​​​​​​​: Genau. „Manon” war auch ein Misserfolg. Einige Szenen schienen damals schockierend, aber wenn man den Roman liest, findet man das alles darin. Das Ballett ist näher am Roman als beide „Manon“-Opern. Dieses Jahr hat es glaube ich die 24. Kompanie erworben und alle erneuern die Lizenz; das bedeutet, dass es sich sehr gut verkauft und die Leute immer noch kommen, um sich das Stück anzusehen.

Redaktion: Wer kümmert sich um die „Manon”-Proben in Paris?

Deborah MacMillan​​​​​​​: ​​​​​​​Das Stück wurde von Karl Burnett, Gary Harris und Patricia Ruanne einstudiert. Sie hat den Tänzern alle Rollen beigebracht und geholfen, das Ballett auf die Bühne zu bringen. Das war wunderbar, da sie mit Kenneth gearbeitet hat, als er „Manon“ zum ersten Mal in Paris einstudiert hat – und inzwischen sehe ich allmählich, wie die Tänzer sich ihre Rollen aneignen. Während der letzten Probe taten alle im Corps de ballet wirklich ihr Bestes, um ihre Figuren auszufüllen und die kleine Geschichte zu erzählen, die sie sich ausgedacht haben; deswegen bin ich sehr zufrieden.

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