„Lamento“ von Mario Schröder

„Lamento“ von Mario Schröder

Schmerzenslandschaften

Mario Schröder zeigt „Lamento“ an der Oper Leipzig

Betörend wie erschütternd: In einem Doppelabend lässt der Leipziger Ballettdirektor sein Ensemble zu Musik von Udo Zimmermann, Johann Sebastian Bach und Henryk Góreckis zwischen Selbstbehauptung und Selbstauflösung tanzen.

Leipzig, 10/02/2020

Schöner leiden mit dem Leipziger Ballett. Am Samstag hatte in der Oper „Lamento“ bejubelte Premiere. Ein zweiteiliger Abend, an dem Ballettdirektor und Chefchoreograf Mario Schröder sein Ensemble erst zu Musik von Udo Zimmermann und Johann Sebastian Bach durch „Blühende Landschaft“ tanzen ließ, nur um es danach in jene Leidenstiefen zu stürzen, die Henryk Góreckis berühmte Dritte Sinfonie, die „Sinfonie der Klagelieder“, so betörend wie erschütternd heraufzubeschwören vermag.

Nun ist es natürlich wenig überraschend, dass bei einem Ballettabend, der mit „Lamento“ überschrieben ist, dann selbst eine „Blühende Landschaft“ als Terrain beklagenswerter Tristesse erscheint. Aber wie es nun mal so ist: Was blüht, welkt eben auch. Und das gilt nicht zuletzt für verlorene Illusionen nach blumigen (Politiker-)Versprechen.

Als „ironische Anspielung“ auf diese möchte nämlich Mario Schröder den Titel „Blühende Landschaft“ begriffen wissen. Eine Choreografie, die schon 2013 als eine Art Spiegelung zu Uwe Scholz' „Pax questuosa“ entstand. Und in der zu Udo Zimmermanns Konzert für Violoncello und Orchester „Lieder einer Insel“ (benannt nach einem Gedicht Ingeborg Bachmanns) und einem zwischen den Sätzen eingefügten Bach-Mix (Kantaten, Doppelkonzert für Violine und Oboe), die Kompanie auf der Bühne wuselt, sich zu Sehnsuchtstrüppchen bündelt und in Vereinzelung verliert (blüht und welkt, wenn man so will, und verweht wird vom Wind der Geschichte), während Videoprojektionen (Demo mit Deutschlandfahnen, Müllkehrer bei der Arbeit) den Interpretationskontext dazu liefern. Was „Blühende Landschaft“ insgesamt als Sinnbild-Reigen allzu luftdicht schlicht verpackter Sinnstiftung seine, nun ja, Blüten treiben lässt.

Wären da nicht immer wieder diese wechselnden Paare im Lichtspot! Er und Sie, gleich Spieluhrfiguren, die sich in langsam variierenden klassischen Figurationen ebenso langsam im Kreis drehen. Wie Cherubim der Gleichmut, abseits des Geschehens, von keinem menschlichen Lamento zu berühren, weltabgewandt in (liebender?) Selbstgenügsamkeit – und in einem Bild, das genau darin dunkel und zugleich frei von allzu naheliegenden Sinndeutungen atmet.

Glücklicherweise ist es genau dieser Atem, der sich im zweiten Teil des Abends bewahrt. Auch wenn besagte Paare darin keinen Platz mehr finden. Aber wie auch, ob der gleichsam wuchtig und zart, aufwühlend und tröstend aus tiefsten Leidenstiefen aufsteigenden Musik Góreckis?

In der „Sinfonie der Klagelieder“ wird der Schmerz essenziell und transzendiert sich zugleich: Die Mutter Gottes beklagt ihren toten Sohn. Eine junge Polin kratzt im Gestapo-Gefängnis eine Botschaft für ihre Mutter in die Zellenmauer, während eine andere Mutter inmitten der Aufstände in Oberschlesien nach der Leiche ihres von deutschen Soldaten getöteten Sohnes sucht.

Drei Sätze, die vom Gewandhausorchester unter Leitung Christoph Gedscholds angemessen zwischen Emphase und Verhaltenheit heraufbeschwört werden. Und drei Texte, mit denen Sopranistin Lenka Pavlovič in nuancierter Innigkeit durch diese Klanglandschaft des Schmerzes und der Trauer treibt.

Eine Landschaft, die auf der Leipziger Opernbühne lange Zeit passend fahl und ascheweiß leuchtet (Licht: Michael Röger), während vom Himmel schier endlos verbrannte Buchseiten auf die Tänzerinnen und Tänzer herabregnen, die erst in Schwarz erscheinen, dann gleich nackten Kreaturen, wie Leidensschimären in sich herabsenkende Glaskuben gezwängt sind und sich späterhin in weiß-blau changierenden Kostümen im Bühnenraum gruppieren (Bühne, Kostüm, Video: Paul Zoller).

Dunkel und frei atmend: Schröder illustriert in dieser Choreografie gottlob nichts von dem, was die einzelnen Górecki-Sätze an etwaigen Handlungs-Illustrationen anbieten. Sicher, hier und da kann man allegorische verkleidete Bezüge erkennen. Aber diese Bezüge sind eben genau das: Allegorien für einen Zustand des Schmerzes. Und das heißt, sie sind hier eben keine Sinnbild-Simplifizierungen, sondern markieren in der fließenden Anmutung zwischen Erdenschwere und -leichte, zwischen Bedrückung und Entschweben durchaus ein gelungenes Adäquat zur Musik.

Bis hin zu bestechenden Momenten, wie jenem, in dem sich während eines Solos der große Schattenwurf der Tänzerin auf der Bühnenrückwand immer wieder doppelt. Im Kontext erscheint das gleich einer intimen Zwiesprache zwischen Selbstauflösung und Selbstbehauptung und positioniert sich zudem als wirkungsvoller Kontrast zu den vielen dynamischen Gruppentableaus, die, Schröder-typisch, auch hier freilich wieder aufs zumindest dezent hoffnungsvolle Schlussbild zusteuern. Allerdings einem, vor dem sich – die letzten Takte der Musik sind da längst verklungen - in stiller und betont langsamer Unerbittlichkeit der Vorhang herabsenkt.
 

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