Mario Schröder, Reeps100 und das Leipziger Ballett: „Fusion“

Mario Schröder, Reeps100 und das Leipziger Ballett: „Fusion“

Tanzt die KI!

Mario Schröder und Reeps100 suchen in „Fusion“ nach Möglichkeiten von künstlicher Intelligenz

Ein Plädoyer für die künstliche Intelligenz und den Menschen gleichermaßen. Doch wenn die KI zur Tänzer*in wird, zu was wird dann der Mensch?

Leipzig, 30/05/2023

Ballett trifft auf Soundkünstler und Künstliche Intelligenz. Mit diesen Schlagwörtern lässt sich das Projekt „Fusion“ des Leipziger Chefchoreografen Mario Schröder und des Soundkünstlers Reeps100 beschreiben, das Pfingsten Premiere feierte. Zusammen mit dem Komponisten Gaadi Sasoon, der ebenso wie Reeps100 live aus dem halb hochgefahrenen Orchestergraben performt und dem Kostüm- und Bühnenbildner Paul Zoller entsteht in der Leipziger Oper ein wahres Opus Magnum zur Frage des Lebens von Maschinen.

In vier große Bilder hat Schröder das Werk unterteilt. Zunächst schweben elf Tänzer*innen wie in Inkubatoren auf der Bühne auf und ab, acht weitere liegen in drei Menschenhaufen am Boden. Alle tragen Kostüme mit schwarzen eng anliegenden Bändern, wie am Computer kreierte Modellpuppen, auch spätere Kostümwechsel greifen dieses Motiv auf. Sie erinnern in der Kreatürlichkeit ihrer Bewegungen eher an einen Homunculus denn an einen Menschen. Ein Erfinden von rudimentären Bewegungen in dunklem Nachtblau beginnt.

Dahinein bringt Harry Jeff alias Reeps100 seine Soundkonstruktionen. Er kommt ursprünglich aus der Beatbox-Szene, macht also alles ausschließlich mit Mund und Mikro, von denen vier vor ihm stehen, die alle unterschiedliche Effekte erzeugen. Dies hier ist aber mehr als Beatbox, es ist mundgemachte Soundkunst. Reeps100 zieht zunächst alle Register des dunklen Sounds: es knistert und knattert, atmet und flüstert oder wechselt in mytsischen Untertongesang. Das erzeugt eine technizistisch-dunkle Grundstimmung, die an düstere Science-Fiction-Filme wie „Alien“ oder „Matrix“ denken lässt. Die späteren Synthie-Einsätze von Gaadi Saason, der auch mal zu Klavier oder E-Geige greift, verstärkt diese atmosphärische Düsternis auf der Reise durch das Bewusstwerden der Technik. Sicherlich nicht zufällig lassen einige Passagen stark an die Serie „Westworld“ erinnern, die genau dieses Thema um Androiden und ihr Verhältnis zu den Menschen aufgreift.

Vom Menschen ist hier freilich nichts zu sehen. Schröder lässt seine Tänzer*innen in großen Körperteppichen das Menschliche suchen. Die Bewegungen wirken mechanisch, bisweilen abgehackt, ein Kollektiv, das seine Erfahrungen mit diesem neuen Ding namens Körper erst machen muss. Partikulare Entdeckungen, die ihren Weg in den Schwarm finden. Diese Suche stellt das Ensemble äußerst filligran und genau aus, wenn es in gebrochenen Bewegungen chorisch über die Bühne treibt oder sich neugierig einem großen Wasserbecken nähert, auf dessen Oberfläche die Reepschen Sounds für Bewegung sorgen und das sie schließlich selbst, nach forschendem Zögern betreten – bloß um dann in einem großem Wasserfall hinfort gespült zu werden. Später werden in einem ähnlichen Effekt Schaumstoffteile wie Eisblöcke auf die Bühne stürzen. Evolution ist auch für Android*innen kein Selbstläufer.

Nach der Wasserschlacht folgt das einzige Solo des Abends. Yun Kyeong Lee ist die Überlebende, die nun alleine nach Bewegungen sucht, bis schließlich erste digitale Schatten von den Rändern auftauchen, ihren Tanz spiegeln und die Bühne bevölkern. Vermessen wird nun die Natur in Form von großen Ästen, die über ihnen schweben. Am Ende dann haben die Maschinen es geschafft, sie haben den menschlichen Status und kommen als Zweiköpfer mit vier Armen und Beinen, um die Welt zu erobern.

Ein faszinierender Abend voll visueller und akustischer Kraft, der tänzerisch eine der großen zeitgenössischen Fragen der Menschheit verhandelt. Bei aller Technikverliebtheit in den riesigen Animationen und dem thematischen Ansatz verliert er sich aber nicht in der Dystopie des Aufstands der Maschinen. Denn all dieser Technikoverload, der auf der Bühne wie ein Feuerwerk auf das Publikum niedergeht, ist ohne den Menschen hier nicht denkbar – weder beim Tanz noch bei den mundgemachten Sounds. So ist die Enstehung des Abends seine eigene inhaltliche Antithese und der Titel „Fusion“ daher passender wie nie.

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