„RELY“ von Lotte Mueller, Tanz: Miriam Arbach, Clara Sjölin, Tobias Schormann

Gut gerüstet

Masterstudiengang Choreografie der Palucca Hochschule für Tanz

Die ersten AbsolventInnen des von der Choreografin und Tänzerin Katharina Christl neu konzipierten Studiengangs stellen ihre Arbeiten im Labortheater der Hochschule für Bildende Künste in Dresden vor. Ein Abend der Vielfalt künstlerischer Disziplinen.

Dresden, 21/08/2018

Der Raum des Labortheaters ist so gut wie leer, bis auf einen in der Mitte gestalteten Raum, das Publikum kann sich frei bewegen. Ist das in der Mitte ein Turm? Ein Verlies? Langsam erkennen sich die Menschen in den Projektionen auf den Außenwänden dieses Raumes wieder, direkt oder indirekt, Schatten, Umrisse, Projektionsinstallationen. Bald verlassen die Schatten den Boden, verlieren die Schwerkraft, schweben und schwanken hoch auf den Wänden. Dann nimmt man den Tänzer wahr. Ist er ein Gefangener? Zunächst am Boden, dann, wenn auch er sich der Abbilder seines Wesens an den Innenwänden gewahr wird, setzt er sich tänzerisch dazu in Beziehung. Dazu Sound, der an- und abschwillt. „me“ heißt die Choreografie des in Dresden lebenden und in London an der Rambert School ausgebildeten Tänzers Charles A. Washington, die so beeindruckend wie berührend der Frage nachgeht, welche Bilder wir von uns selbst haben, wie wir sie projizieren, wie wir versuchen ihnen gleich zu werden und an welche Grenzen wir dabei geraten – „was hinterlassen wir, wenn das virtuelle Ich zu dem wird, mit dem wir uns identifizieren?“

Szenenwechsel. Mitten im Raum des Labortheaters steht nun eine fest umgrenzte Insel. Darin befinden sich unzählige Golfbälle, auf denen beständig hölzerne Inseln rollen. Kein Halt, nirgends. Lotte Mueller aus Leipzig, ausgebildet in zeitgenössischem Tanz, Akrobatik und physischem Theater, hat diese Insel entworfen und lässt darauf drei Menschen, die Akrobatin Miriam Arbach, die Tänzerin Clara Sjölin und den Schauspieler Tobias Schormann in kniffligsten Situationen agieren. Dabei geht es darum, festen Boden zu gewinnen, Halt und Standhaftigkeit. Wie viel Stabilität bietet grundsätzliche Instabilität? Wie bekommt man Halt, wenn der Boden buchstäblich unter den Füßen hinweg rollt, wie groß ist die allerkleinste Insel, auf der ein Mensch noch tanzen kann?

Darauf folgt „This Diamond Salt-Lick Future“ von Caroline Beach aus Dallas (Texas), die von 2009 bis 2016 Tänzerin beim Semperoper Ballett in Dresden war. Eine golden glänzende Rauminstallation mit unzähligen, herabhängenden Schnüren, die sich bei genauerem Hinsehen als Elektrodrähte entpuppen. Caroline Beach tanzt bzw. performt nach ihrem Konzept gemeinsam mit zwei Assistentinnen, die wie Servicemitarbeiterinnen einer gehobenen Hotelkette gekleidet sind, in der Ausstattung von Amelie Sabbagh und Lisa Rüger. Die Musik wird von der Choreografin selbst gesungen, sie begleitet sich auf der E-Gitarre, sofern nicht zugespielt, als Improvisation zum „Song to the Siren“ von Tim Buckley. Ein augenzwinkernder Ego-Trip? Wie tief wird hier in den Meeren der Sehnsüchte, die älter sind als man glauben mag, gefischt? Immerhin, die Bediensteten werfen den Mixer an, Vitamine pur, die Tänzerin als gepushter Automat? Goldenes Heim, Glück allein, oder doch nicht? Da kann sie schon mal stürzen nach diesem Roboterballett, Dynamik am Boden entwickeln, auch mal verzweifelt, emotional werden, zwischen diesen immer wieder neu zu ordnenden, goldenen Schnüren, die sich heben und senken. Es ist keine Choreografie der Antworten. Ein Spiel mit den Fragen, mit den Rätseln, mit Irrungen und Wirrungen, von suggestiver Bildkraft.

Und dann noch eine Auseinandersetzung mit Grenzen und Begrenzungen, die Räume schaffen, deren Maße und Veränderungen sich vom Menschen nicht bestimmen lassen, aber dessen Bewegungskraft herausfordern. Situationen, wie geschaffen für den Tanz von Guillaume Pires Prada aus Pau in Frankreich, ausgebildet in Toulouse und Montpellier, und dem visuellen Künstler Benjamin Mouret, auf der Bühne von Katarzyna Oleksinska und Sebastian Schrader. „Parasitic“ heißt diese Tanzperformance, in der Guillaume Pires Prada zunächst wie in einem Geburtsvorgang sich aus einer Plastikblase befreit. Schon ist diese Freiheit gefährdet. Von unsichtbarer Hand gesteuert, verändert sich die Existenzfläche beständig durch die Vorgaben scharf umgrenzter Flächen seiner Bewegungsmöglichkeiten in schnell wechselnden Lichtvorgaben. Dagegen tanzt der Künstler in kraftvollen Bewegungschoreografien an. Ein existenzieller Kampf mit zwar nicht zu bestimmenden Vorgaben, aber auch kein Akt der Verzweiflung, eher eine Art Erweiterung individueller Möglichkeiten wie sie wohl nur der Tanz möglich macht, dem es eben nicht eigen ist, den Augenblick festzuhalten, sondern aus dessen Vergänglichkeit die Kraft zu beziehen, dem nächsten Impuls der Bewegung zu folgen.

Mit der Präsentation dieser Masterarbeiten ging der erste zweijährige, von Katharina Christl neu konzipierte und geleitete Studiengang Choreografie an der Palucca Hochschule für Tanz in Dresden zu Ende. Die in Dresden ausgebildete Tänzerin und Choreografin, die sich nach Abschluss ihres Studiums an der Schule ganz bewusst erst mal internationalen Tanzwind um die Nase wehen ließ, etwa als Tänzerin und Choreografin beim Ballet National der Marseille, arbeitete mit internationalen Größen wie Emanuel Gat, Annabelle Ochoda Lopez, Pascal Touzeau oder Richard Siegal. Sie übernahm ab 2005 die choreografische Assistenz für alle Kreationen von Frédéric Flamand in Marseille und erwarb zudem das Staatsdiplom des Französischen Kulturministeriums. Schon immer, so sagt sie im Gespräch, interessierten sie die Verbindungen der Künste, daraus entstehe, gerade für Choreografien, kreatives Denken. Dass sie dies den ersten Absolventen zu vermitteln verstanden hat, war in den Arbeiten zu sehen. Für Katharina Christl sind sie in den zwei Jahren unwahrscheinlich gewachsen: „Ich freue mich besonders, wie sie aktiv und vernetzt aus diesem Studium herausgehen.“ Gute Voraussetzungen, einen Platz als Choreografin, als Choreograf zu finden? „Ja, sie haben nun einen kompletten Werkzeugkasten in der Hand. Von Produktionsplan über Subventionsanträgen und Kommunikation. Von Lichttechnik über Bühnenbild und Multimedia/Sound-Kreationen. Von Bewegungsgenerierungen über Komposition und Analyse. Von Psychologie über Tanzgeschichte und interdisziplinärem, theoretischem Austausch durch mehrere wunderbare Kooperationen, wie mit der Hochschule für Bildende Künste Dresden und der Fakultät Architektur der TU Dresden. Choreografie ist ein Handwerk. Sie sind gerüstet, ihren eigenen Weg zu gehen und das werden sie.“ Katharina Christel, die betont, dass ihr das konstante und direkte Feedback mit allen Akteuren sehr am Herzen liege, um den Studiengang evaluieren und verbessern zu können, sagt mit Blick auf die Zukunft: „In der Struktur des Studiengangs wird es keine Veränderungen geben, ich arbeite jedoch eng mit den Dozenten zusammen, um an vereinzelten Stellen pädagogisch und inhaltlich die Strategien zu verbessern.“ Und wie geht es weiter? An Interessenten fehle es nicht, ganz im Gegenteil: „Die Anzahl von Bewerbern ist seit 2016 enorm gestiegen, es gibt jetzt schon Interessenten für 2020. Auf Grund der Möglichkeit, das Studium in englischer Sprache zu durchlaufen und der flexiblen Struktur, öffnete sich dieser Bereich der Palucca Hochschule für Tanz Dresden für internationale und größtenteils freischaffende Künstler. Dementsprechend bringt es eine qualitative, künstlerische und kulturelle Vielfalt der Kandidatinnen und Kandidaten mit sich, was in der Auswahl eine nicht immer einfache Situation für die Kommission bedeutete. Für das nächste Wintersemester haben sich acht Studierende eingeschrieben, welche sich in der Aufnahmeprüfung durchsetzen konnten.“ Also dann, viel Erfolg, in der Hoffnung beim nächsten Abschluss dann die doppelte Anzahl interessanter und zukunftsweisender Choreografien als Masterarbeiten zu erleben.

 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern