Aber der Richtige, wenn’s einen gibt

Beim Movimentos-Festival in Wolfsburg erhielt der Choreograf Lin Hwai-Min vom Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan den Preis für sein Lebenswerk und präsentierte mit „White“ zum ersten Mal seit Jahrzehnten in Europa wieder ein gemischtes Programm

Wolfsburg, 18/05/2009

Alle fünf Jahre, zum ersten Mal 2004, verleiht das ein Jahr zuvor gegründete Festival Movimentos in Wolfsburg ein knappes halbes Dutzend Tanzpreise: für ein künstlerisches Lebenswerk, für die beste Choreografie, den besten Nachwuchskünstler sowie die beste Tänzerin und den besten Tänzer. Ob die international besetzte Jury 2009 das richtige Händchen bei der Auswahl hatte, lässt sich kaum beurteilen, wenn man die Preisverleihungs-Gala nur aus zweiter Hand, in einer auf eineinhalb Stunden verkürzten Fernsehaufzeichnung des Senders Arte, erlebt hat. Denn bei dieser Fernsehaufzeichnung ging schief, was nur schief gehen konnte: eine unbedarfte Moderation, die Kamera grundsätzlich zu nah bei den Tänzern und ihren Bewegungen, zuweilen nur um die Wiedergabe eines körperlichen Details bemüht, der Schnitt so atemlos und hektisch, dass der Zuschauer kaum folgen konnte; offenbar war da ein Regisseur bei der Arbeit, der vergessen hatte, dass an diesem Abend nicht er der Star war, sondern die Preisträger und ihre Produkte, und der versuchte, Tanzkunst in Filmkunst zu verwandeln – was so gut wie nie funktioniert.

Doch mindestens in einem Fall hat die Jury den Richtigen gefunden: ein würdigerer Empfänger des mit immerhin 20 000 Euro dotierten Preises für ein Lebenswerk als der 62-jährige Lin Hwai-min, Gründer, Leiter und Chefchoreograf des Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan ist kaum vorstellbar. Lin nahm die Preisverleihung zum Anlass, das dreitägige Gastspiel seines Ensembles im Wolfsburger „Kraftwerk“ nicht mit einem abendfüllenden Stück zu bestreiten, sondern – zum ersten Mal seit Jahrzehnten – mit einem („White“ überschriebenen) gemischten Programm. So sah das Wolfsburger Publikum außer zwei neuen auch zwei Stücke aus dem Frühwerk des Choreografen – und die sind erstaunlich, um nicht zu sagen: sensationell. „Adagietto“ aus dem Jahre 1984 nutzt die Ohrwurm-Musik des 4. Satzes aus Gustav Mahlers 5. Sinfonie zu einem „weißen“ Ballett, das es jederzeit mit den weißen Sätzen der romantischen Klassiker aufnehmen kann.

Es ist ein reines Frauen-Stück. Ein mit weißen Tüchern verhängter und belegter Bühnenkubus (von Lin Keh-hua), wird von der Windmaschine derart in Bewegung gesetzt, dass die zehn Tänzerinnen, die sich mit zeitlupenhaften Tai-Chi-Bewegungen kaum von der Stelle rühren, wie auf Wolken zu schweben scheinen. Der Choreograf hat neun von ihnen in einem aus Dreier-Reihen gefügten Block auf die linke Bühnenseite gestellt und diesen Block mit einer einzelnen Solistin (Yang I-chun) auf der rechten Bühnenseite kontrastiert. Mit der Zeit bewegt sich die Gruppe, in der jedes Individuum mit einem eigenen Bewegungsvokabular ausgestattet ist, der immer wieder in einen großen, synchronen Gleichklang mündet, unendlich langsam von der rechten auf die linke Bühnenseite, während die Solistin, durch die Gruppe hindurch, den umgekehrten Weg nimmt, bis sich im Finale die ursprüngliche Ordnung verkehrt hat. Es ist ein Stück wie ein Hauch: federleicht, aber nur scheinbar weich und nachgiebig in den Konturen, in Wahrheit fest gefügt zu einer schier überirdischen, unverletzlichen Schönheit.

Einen starken Kontrast dazu bildet das zweite Stück des Programms. Lin Hwai-min schuf „Requiem“, zu einer alten, verkratzten Schallplattenaufnahme einer von einem Anonymus dahin gedonnerten Klavier-Musik von Franz Liszt, 1989 unter dem unmittelbaren Eindruck des Massakers auf dem Tianamen-Square in Peking: einen zehnminütigen Drehtanz für eine Tänzerin in einem weit geschnittenen knöchellangen Kleid. Lin hat für diese – wie aus dem Geist des deutschen Ausdruckstanzes der zwanziger Jahre geschaffene – Totenklage, die er ursprünglich der zierlichen (vor einigen Jahren an Krebs gestorbenen) Lo Man-fei auf den Leib choreografiert hat, die Tänzerin Dung Shu-fen reaktiviert, die zuvor zehn Jahre lang nicht mehr auf der Bühne gestanden hatte. Dung tanzt das mit einer Intensität sondergleichen. Sie variiert das Tempo ihrer auf der Stelle kreiselnden Bewegungen und durchbricht deren Monotonie mit ausdrucksstarken Armen, und wenn sie nach einer Phase der Bewegungslosigkeit kurz vor dem Ende sich mit gebeugtem Oberkörper noch einmal hineindreht in ihre kreiselnde Verzweiflung, sind die Trauer und der Gram über das Leid an der Welt auch für den Zuschauer fast körperlich spürbar.

Während der Aufführungspause überbrückt das Programm fast zwei Jahrzehnte. Die unmittelbar ineinander übergehenden Stücke „White II“ und „White III“, beide im April 2006 in Taipeh uraufgeführt, zeigen die Entwicklung des Choreografen in den letzten Jahren und die Virtuosität seiner Tänzer in ihrer schönsten Form. „White II“ beginnt, zu einer Musik von Alex Cline, auf einer von Beleuchtungsarmaturen und dunklen Vorhängen dominierten Bühne, die die acht Tänzer, in kleinen Gruppen, zunächst durch eine hohe, helle Öffnung in der Rückwand betreten, und während sie, häufig paarweise, ihre aus den „Cursive“-Stücken weiter entwickelten, oft akrobatischen Tänze präsentieren, räumt ihr Choreograf die Bühne allmählich von allen dunklen Behinderungen frei, um dann in „White III“, mit dem kompletten Ensemble von 19 Tänzern, zu einer schrillen, die Bewegung anfeuernden Musik von Atsuhiko Gondai, noch einmal voll zuzuschlagen. Es ist eine Choreografie wie ein Freudenschrei oder ein Befreiungsschlag: locker und leicht, getragen von Spielfreude und der Lust der Tänzer an der eigenen Virtuosität – der famose, perfekte Abschluss eines Tanzabends, der mit Autorität bestätigte, dass die Wahl des Preisträgers für das bedeutendste choreografische Lebenswerk diesmal den Richtigen getroffen hat.

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