Das Flüstern der Blumen

Lin Hwai-mins neues Tanzstück „Whisper of Flowers“ in Chiayi, Taiwan, uraufgeführt

Chiayi, Taiwan, 29/09/2008

Am Anfang von Lin Hwai-mins neuem Tanzstück „Whisper of Flowers“ für das von ihm geleitete Cloud Gate Dance Theatre of Taiwan ist die Bühne leer und schwarz. Aber die Stimmung ist gleichwohl heiter. Denn der Bühnenboden im Performing Arts Centre in des Choreografen Geburtsstadt Chiayi in Zentral-Taiwan ist bedeckt mit leuchtend roten Blüten, und die Tänzer, die diesen Boden in zunächst nur kleinen Gruppen betreten, tragen bunte Kleidchen oder helle Jeans und bunte T-Shirts (von Lin Chiung-tang). Die Idee zu dieser Bühnengestaltung kam dem Choreografen bei einem Gastspiel im portugiesischen Sintra, wo er durch einen Wald von Magnolienbäumen wanderte – und über einen Teppich aus roten Blüten, die ein starker Regen von den Bäumen gepflückt hatte. Die Blüten im fertigen Stück bestehen aus feuerfester zarter Seide und mussten vom chinesischen Festland importiert werden, da sie auf Taiwan, von wo Pina Bausch die Kunstblumen für ihr „Nelken“-Stück bezieht, nicht aufzutreiben waren.

„Whisper of Flowers“ beginnt verhalten mit einem Frauen-Solo, gefolgt von einem Duett und einem weiteren weiblichen Solo, ehe – schon fast zur Hälfte des halbstündigen ersten Teils - das erste, auch nur sechsköpfige Ensemble folgt. Die Tanzenden bewegen sich locker und virtuos, stilistisch näher am Ballett als irgendetwas, das Lin jemals zuvor choreografiert hat. Aber unübersehbar ist, dass die Eingangssequenzen von „Whisper of Flowers“ nicht zu Lins stärksten choreografischen Einfällen zählen. Auch im weiteren Verlauf des ersten Akts erreicht „Whisper of Flowers“ - obwohl seine choreografische Dichte ebenso kontinuierlich zunimmt wie die Windböen, die immer mehr rote Blätter immer heftiger über die Bühne treiben - nicht die ästhetische Qualität von Werken wie der „Cursive“- Trilogie, „Nine Songs“, „Bamboo Dreams“ oder gar „Moon Water“.

Das Stück bleibt hübsch anzusehen, aber harmlos, ein wenig flach und eindimensional im Vergleich mit den vorangegangenen Geniestreichen Lins. Dabei benutzt es als musikalische Basis dieselbe Musik wie das grandiose „Moon Water“: die Cello-Suiten von Johann Sebastian Bach, genauer: einige der Sätze, die der Choreograf bei seinem ersten Bach-Ballett nicht benutzte. Es sind vor allem schnelle Sätze: die eine oder andere Allemande, Sarabande oder Gigue, diesmal übrigens gespielt von dem Chinesen Yoyo Ma anstelle des Russen Mischa Maisky (den Lin zu Live-Auftritten für eine auf die Uraufführung von Chiayi folgende kleine Aufführungsserie von „Moon Water“ zur 35-Jahrfeier der Kompanie im Nationaltheater von Taipeh gewinnen konnte, wo das ältere Stück, da die Version aus den achtziger Jahren Maisky längst nicht mehr gefällt, erstmals mit einer neuen Einspielung der Musik gespielt wurde).

Eine halbe Stunde lang breitet Lin Hwai-min, darin durchaus unterstützt von einem sehr jungen Ensemble, in dem die älteren, „erwachsenen“ Tänzer diesmal fehlen, vor dem Zuschauer ein Tableau naiver Jugendlichkeit aus. Aber das, gibt der Choreograf im privaten Gespräch durchaus zu, „ist eine Falle“. Im Programmheft liest man, die Choreografie habe sich von Anton Tschechows desillusioniertem Schauspiel „Der Kirschgarten“ inspirieren lassen (was nicht nur damit zu tun hat, das Lin im nächsten Jahr mit dem Stück beim Tschechow-Festival in Moskau gastieren möchte, wo nur Aufführungen akzeptiert werden, die irgendwie mit dem russischen Dichter zu tun haben). Lin ist, ein halbes Jahr nach dem Brand des Cloud Gate-Studios, der ihm offenbar stark zugesetzt hat, nicht auf eine unterhaltsame Vergnüglichkeit aus. Letzten Endes handelt sein Stück vom Ende der Jugend und vom Verlust der Unschuld und des Paradieses, von der zunehmenden Unwirtlichkeit einer Welt, die die kleine Insel Taiwan im südchinesischen Meer in weniger als einem Monat mit drei schweren Taifunen überzog, von denen der erste auch das Zustandekommen der Uraufführung von „Whisper of Flowers“ gefährdete, dann aber nur eine Menge Regen in der Region um Chiayi ablud, bis zu 1200 Millimeter pro Quadratzentimeter.

Wie auch immer: Im rund 45 Minuten langen zweiten Akt trübt sich die Stimmung von „Whisper of Flowers“ völlig ein. Die Bühne ist nun durchgehend dunkel, und statt roter Blüten führt ein sturmartiger Wind nun starke Büschel langer schwarzer Haare mit sich, die sich für den Zuschauer ausnehmen wie jene Grasbüschel, die über manche Wüsten torkeln. Die Bühnenrückwand aber errichtet Lin Hwai-mins Bühnenbildner Lin Keh-hua, eine ferne Erinnerung an „Moon Water“, aus spiegelnden Folien, welche die Kunst des Lichtdesigners Chang Tsan-Tao bei Bedarf durchsichtig macht, so dass der Zuschauer nie ganz sicher sein kann, ob die parallelen Abläufe, die er sieht, real sind oder ob es sich um Spiegelbilder handelt.

Nur die Eröffnungssequenz, getanzt wie die Eröffnung von Huang Pei-hua, präsentiert noch eine einzelne Tänzerin. Was folgt, sind durch die Bank große Ensembles, allenfalls unterbrochen von ein, zwei Duetten. Die bunten Kostüme sind verschwunden; tatsächlich tragen die Tänzer nun so viel blanke Haut, dass sie im Halbdunkel zuweilen fast nackt wirken. Die Bewegung aber nähert sich schwerem Modern Dance an. Sie ist bodennah und verklumpt die Körper auf engem Raum zu kompakten Blöcken. Immer von neuem drängen sich die Menschen aneinander und übereinander, Immer neue Anläufe nimmt die Choreografie zu Bildern, die man als Höllenstürze bezeichnen könnte, wenn sie sich schneller und in der Senkrechten statt in der Waagerechten abspielten. Doch am Ende ist die Bühne völlig leer. Lin Hwai-min zieht nicht nur sein gesamtes, 19-köpfiges Ensembles von der Szene zurück. Er senkt auch eine glatte weiße Wand aus dem Bühnenhimmel herab, auf die der Beobachter minutenlang schaut. Nun könnte, hat er in einem Interview erklärt, etwas Neues beginnen, beispielsweise eine Aufführung von „Moon Water“. Aber noch schöner wäre es natürlich, wenn etwas wirklich Neues anfinge; an Ideen fehlt es dem Choreografen nicht.

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