Getanzte und musizierte Geometrie

Deutsche Erstaufführung von Keersmaekers „Zeitung“ bei der RuhrTriennale

Essen, 12/09/2008

Nein, mit modernen „Printmedien“ hat Anne Teresa de Keersmaekers Choreografie „Zeitung“ nichts zu tun. Vielmehr zeigte die Deutsche Erstaufführung der Zusammenarbeit mit dem Pianisten Alain Franco auf Pact Zollverein im Rahmen der RuhrTriennale: Es geht um Zeitmaß und Raumvermessung, um Klang und Bewegung – Körper-Experimente contra musikhistorische Entwicklungen und Varianten. Tanz und Musik – kein europäischer Choreograf lotet Möglichkeiten und Strukturen eines Dialogs so akribisch und beharrlich aus wie die Flämin. „Zeitung“ erinnert an ihre frühen, Aufsehen erregenden „Tanzkonzerte“, auch an den „Steve-Reich-Abend“, der zuletzt in diesem nüchternen Raum – der einstigen Waschkaue einer Zeche – für Furore und Irritation sorgte. Angedeutet werden nun geometrische Muster, teilweise durch beleuchtete Neonröhren, teilweise mit Hilfe gespannter Schnüre, womit die neun ROSAS-Tänzer den Raum vermessen, unterteilen oder akzentuieren. Musik von Bach, dem genialen „Geometriker“, sowie von Schönberg und Webern in seiner Nachfolge schafft das musikhistorische Spannungsfeld zwischen gestern und heute, alten und neuen Kompositionstechniken, Solo und Tutti.

Was Franco, de Keersmaeker und die Tänzer aus diesem so nüchternen, abstrakten „Modell“ zaubern, löst schieres Staunen und helle Begeisterung aus. Wie im Flug vergeht die zwei-stündige, pausenlose Vorstellung aus 26 Miniaturen von drei bis maximal zehn Minuten Länge. Abwechslungsreich und virtuos perlen Pianomusik (live) und Tonbandaufnahmen (teilweise Bearbeitungen Bachscher Werke) – gelegentlich als reine Konzertmusik, ebenso wie die Tänzer mitunter ganz ohne Musik, völlig lautlos tanzen. Vielfalt und Reichtum der Bewegungsmuster, Gesten und Sprünge scheinen grenzenlos. „Zurück zu den Wurzeln“ wollte de Keersmaeker gehen - zurück „nun zur Einfachheit der Körper im Tanz“. Unglaublich, wie die neun „Artisten“ mit den Tempi zwischen Zeitlupe und Zeitraffer jonglieren, ihre Gliedmaßen verrenken wie spastisch Gelähmte oder Gummipuppen, mit „affenartiger“ Behendigkeit den Raum durchmessen, mit geschmeidiger Anmut ihre Gliedmaßen strecken, quasi zum Flug ansetzen. Dann wieder gehen oder rennen sie ganz normal (eine gar in hochhackigen roten Pumps) oder sie belauern einander, umzingeln Einzelne, weichen einander rückwärts fliehend aus, wenden sich vom Publikum ab. Soli, Duette, kleine Gruppen und alle zusammen vereinnahmen die Bühne im fliegenden Wechsel – bis zur Erschöpfung, bis die Kleider klatschnass am Körper kleben. Pullis und Polos sind längst ausgezogen. Statt enger Weste und eleganter Hose bedeckt die viel zu große Herrenjacke den zierlichen Körper. Der anfangs getragene Ballerina-Dutt hat sich längst gelöst. Wild fliegen die Haare um den Kopf.

Mit Weberns frühem, deutlich impressionistischen Orchesterstück „Im Sommerwind“ endet das „Experiment“. Das kühle musikhistorische und tanztechnische Kalkül wird auch tänzerisch von menschlicher Wärme überrollt durch spontane Improvisationen und kurze Blicke - hier und da ein Lächeln wie man es beim konzentrierten Training im Ballettsaal beobachten kann. Die Aufführungshalle des „Choreografischen Zentrums NRW“ hoch im Essener Norden dient einmal mehr als perfektes „Experimentierfeld“.

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