Kultursalon im Rahmen der Verleihung des Deutschen Tanzpreises 2023: Elisabeth Nehring, Dominique Mercy, Lutz Förster, Jo Ann Endicott, Malou Airaudo

Fo(e)rderungen

Deutscher Tanzpreis 2023 mit Barcamp in Essen

Sophia Neises ist „superinklusiv“, weil sie sehende Menschen mitdenkt, die ehemaligen Tänzerinnen und Tänzer des Tanztheaters Pina Bausch haben künstliche Hüften, und Peter Appel freut sich über die Ehrung für sein Lebenswerk „trotzdem“.

Essen, 15/10/2023

Diskutieren und sich austauschen, bis die Ohren klingeln: Vor die Verleihung des Deutschen Tanzpreises im Aalto Theater Essen hatte der Dachverband Tanz ein zweitätiges Barcamp auf und mit PACT Zollverein veranstaltet. Der bisherige Gedanke eines Symposiums war gekippt worden, das neue Format hat auf mehr Ergebnisoffenheit abgezielt. Mehrere parallel laufende Panels nahmen das zentrale Thema „Förderungen“ mehr oder minder dezidiert auseinander. Und die Idee ist aufgegangen. Rein programmatisch gesehen sollte man bei einem solchen Format nicht unbedingt mit verwertbaren Ergebnissen rechnen. Vielmehr steht der Austausch an sich im Mittelpunkt. Und der hat funktioniert. Über ideale Antragsformulare und die Zukunft der Tanzausbildung wurde genauso heiß debattiert wie über Künstler*innen im Exil, Tanzkunst im Alter und die Sichtbarkeit von urbanem Tanz.

In einigen Fällen bekam das Miteinander sogar einen unerwarteten Drive. Positionen können bekanntlich schon mal so ziemlich unterschiedlich ausfallen. So eben auch beim Verständnis des Begriffs „Moderner Tanz“, der während des Barcamps offiziell in die UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes aufgenommen worden ist. Im damit verbundenen Panel wurde inhaltliche Kritik laut, besonders bei der Frage, was denn eigentlich genau der „moderne Tanz in Deutschland“ sei. Ausdruckstanz? Oder mehr? Was ist dann „moderner Tanz“ jenseits der Landesgrenzen?

Kultursalon mit den Preisträger*innen

Weniger kontrovers und desto unterhaltsamer schaffte es die Journalistin Elisabeth Nehring, durch den abendlichen Kultursalon im Gespräch mit den Preisträger*innen zu führen. Peter Appel, vielen wohl vor allem als Tanzpädagoge bekannt, konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen. Sabrina Sadowska, Ballettdirektorin in Chemnitz, hatte bei ihrer Laudatio auch einige Grußworte des Preisträgers dabei, der demzufolge zwar der Ansicht war, ihn kenne doch heute niemand mehr, schlussendlich aber doch einräumte, sich über den Preis zu freuen.

Die Ehrung für besondere Entwicklungen im Tanz für die seheingeschränkte Tänzerin, Choreografin, Dramaturgin und Aktivistin Sophia Neises hat diese im Handumdrehen und völlig nonchalant zu ihrem „Honorar“ gemacht: Seit Jahren engagiert sie sich nämlich ehrenamtlich im Bereich der inklusiven Sensibilisierungsarbeit, um seheingeschränktem Publikum aber auch solchen Künstlern entsprechende Teilhabe zu ermöglichen. So gesehen ist sie, wie sie selbst meinte, „superinklusiv“: Sie denke sehende Menschen immer mit.

Ganz dem Gedanken der Barrierefreiheit war auch der Rahmen des Kultursalons als auch der Gala gedacht: Neben Gebärdendolmetscherinnen wurden Audiodeskriptionen angeboten. Teil des Konzeptes war auch, dass sich die Anwesenden auf der Bühne selbst beschreiben. Das galt auch für Jo Ann Endicott, Malou Airaudo, Lutz Förster und Dominique Mercy. Deren individuellen Selbstbeschreibungen fügte Jo trocken hinzu: „And we all have new hips.“ Wer hätte das gedacht. Diese menschliche Wärme half ein wenig, über den getanzten Ausschnitt aus Pina Bauschs „Der zweite Frühling“ hinwegzutrösten, denn repräsentativ für ihre Arbeiten kann das nicht gelten. Warum ausgerechnet dieses Stück gewählt wurde, blieb offen.

Gala vom Feinsten

Entsprechend versöhnt wurde das Publikum allerdings tatsächlich mit dem Programm der Gala. Nicht nur, dass hier mit Ausschnitten aus „Vollmond“ und „Kontakthof“ und dem von Lutz Förster getanzten Solo „The man I love“ deutlich mehr Pina Bausch „drin“ war. Die entspannte Mischung aus Dankesworten, Videos und Performances von Gästen wie dem Ballett der Semperoper Dresden, dem Folkwang Studio oder der Staatlichen Ballettschule Berlin bewiesen bei den Organisatoren eine sichere Hand bei der Auswahl der Arbeiten.

Das gilt auch für die Auswahl Mechthild Großmanns als kongeniale Laudatorin für die „Haupt“-Preisträger*innen. Die Schauspielerin erinnerte daran, dass sie vor Jahren zu Jo Ann Endicott gesagt habe, sie tanze, wie Janis Joplin singt. Immerhin liebt Großmann Janis Joplin.

Was wäre denkbar?

Also alles paletti? Kommt drauf an. Welches Standing hat der Deutsche Tanzpreis denn eigentlich bundesweit? Auffällig war beim Barcamp ganz eindeutig ein bemerkenswert hoher Altersdurchschnitt. Tänzer*innen oder Produzent*innen der freien Szene gerade der jüngeren Generation? Fehlanzeige. Besonders der Austausch zwischen den erfahrenen Hasen und genau den Akteuren, die im Moment das Bild vom Tanz gestalten, wäre doch wünschenswert. Mangelt es dem gesamten Format an Attraktivität? An (inhaltlicher) Relevanz? Oder liegt es schlichtweg an der Tatsache, dass es hier nicht zuletzt auch um Reise- und Unterkunftskosten geht? Das sind essenzielle Aspekte. Mit dem Format Barcamp ist ein neuer Weg eingeschlagen worden. Dem Dachverband will man wünschen, dass von hier aus alle die nächsten Schritte in die richtige Richtung gehen werden. Diese zu finden, gilt es sicher noch.

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