Gefühle statt Technik

Die weiteren Besetzungen des Stuttgarter „Schwanensee“

Stuttgart, 06/01/2003

So schnell kann's gehen - nach nicht einmal einer Spielzeit ist Robert Tewsley in Stuttgart schon fast Geschichte. Trotz Verletzungspech und vier ausgefallener „Schwanensee“-Prinzen schickt seine ehemalige Kompanie ein halbes Jahr nach dem Weggang des beliebten Solisten, als wäre nichts gewesen, schon wieder drei bessere Siegfriede auf die Bühne. Die Form, in der Robert Tewsley zum Jahreswechsel an zwei Abenden gastierte, lässt um seine Karriere unter den schnellen, hohen, weiten Kollegen des New York City Ballet fürchten. Mit der wachen Erinnerung an seine in jeder Hinsicht wunderbaren „Schwanensee“-Vorstellungen mit Julia Krämer vor fünf Jahren stellt sich angesichts seiner jetzigen Unsicherheit die Frage, ob der überstürzte Weggang aus London wirklich eine so gute Idee war.

Rein technisch hat Friedemann Vogel ihn mit wesentlich höheren, weiteren Sprüngen und einer rundum sichereren Leistung längst überholt. Aber Tewsleys Siegfried hat all das an Ausdruck, Adel und Feinheit, was Vogel fehlt: das innere Strahlen, die schönen Hände, das echte, nicht aufgesetzt wirkende Lächeln. Der ideale Prinz dürfte - unerreichbar für beide, so will es augenblicklich scheinen - irgendwo dazwischen liegen. Vielleicht könnte es Jason Reilly werden, dem es nach seiner extrem kurzen Probenzeit für „Schwanensee“ zwar noch an manch technischer Finesse mangelt, der aber in dieser einen Woche Proben untrüglich verstanden hat, um was es in Crankos Version geht. Mit ihm und Roberta Fernandes hat „Schwanensee“ wieder eine Geschichte - plötzlich ist klar, was den zwei Einzelkämpfer-Solitären der Erstbesetzung fehlt. Vergessen ist ihr misslungenes Dornröschen: Roberta Fernandes zeigt eine ganz erstaunlich schöne, geradlinige Schwanenprinzessin mit standfesten Pirouetten und schwebendem Port de bras, selbst bei der blitzenden Odile schwingt eine Ahnung von Schwanenflügeln mit. Sicher mangelt es ihr noch ein wenig an Attacke, aber ihre Charakterisierung ist ehrlich und ergreifend. Und sieht wesentlich klassischer aus als die exaltierte Alicia Amatriain.

Reilly hadert bei seinen Sprüngen mit den zu kleinen Maßen der Stuttgarter Bühne und landet deswegen manchmal hart, dafür gelingen ihm andere, größere Schwierigkeiten mit vollendeter Haltung. Er ist einer der wenigen Tänzer, die bei Hebungen ohne die Hauruck-Technik auskommen, stattdessen lässt er seine Ballerina sanft hinauf und wieder hinab schweben. Aber nicht nur das macht ihn zu einem idealen Partner: wenn er nach Odettes Handgelenken greift, als wären sie zerbrechlich, wenn er beim Ball das Heiratsansinnen seiner Mutter völlig versunken und fast erschüttert ablehnt, dann ist er mit jedem Gedanken bei dem verzauberten Mädchen. Der junge Kanadier, der schon in Jerome Robbins' „Dances at a Gathering“ durch seinen ausdrucksvollen und doch klaren, noblen Bewegungsstil auffiel, könnte ein Cranko-Tänzer par excellence werden.

Auch Bridget Breiner und Rollendebütant Jiri Jelinek haben die ganz spezielle Stuttgarter Ballett-Ästhetik verinnerlicht, bei der das Erzählen einer Geschichte viel wichtiger ist als die lupenrein strahlende Technik. Der 25-jährige Jelinek, erst in der letzten Spielzeit von Prag nach Stuttgart gekommen, beeindruckt mit mächtigen, aber nicht sehr leichten Sprüngen und der schönen Technik der russischen Schule. Er tanzt elegant und nach dem Überwinden einer gewissen Anfangsnervosität auch musikalisch, wirkt aber wie manche großgewachsenen Tänzer etwas langsam. Auch er ist ein leidenschaftlich verliebter, stets um seine Partnerin besorgter Prinz, in dessen Spiel manchmal noch ein klein wenig osteuropäisches Pathos mitschwingt - aber eher dessen Würde als irgendeine Übertreibung. Dass er wie der junge Richard Gere aussieht, dürfte seiner wachsenden Beliebtheit nicht abträglich sein.

Bridget Breiner tanzt die Odette/Odile nicht mehr so russisch-beliebig wie bei ihrem Debüt im Sommer 1997, sondern sie ruht jetzt ganz in ihrer eigenen Interpretation, die wie immer bei ihr von Aufrichtigkeit, tiefem künstlerischen Ernst und vollkommener Hingabe geprägt ist. Mit den Fouettés im schwarzen Pas de deux hat auch sie so ihre Schwierigkeiten, aber die vollen 32 hat bis jetzt noch keine der drei Schwanenprinzessinnen geschafft. Dafür wird Stuttgart sicher nicht berühmt werden - aber mit Besetzungen wie diesen beiden Paaren bleibt Crankos „Schwanensee“ weiter eine der stimmigsten, ergreifendsten Versionen in der weiten Ballettwelt.

Kommentare

Noch keine Beiträge