Schöner als im Lehrbuch

Neue Stuttgarter Besetzungen für „Romeo und Julia“

Stuttgart, 09/06/2003

Die hervorragenden Kritiken aus den USA hatten neugierig gemacht: Endlich sind die zahlreichen neuen Besetzungen von Crankos „Romeo und Julia“ auch in Stuttgart zu bewundern. Die schönsten Hymnen hatte Filip Barankiewicz in Amerika bekommen, und jetzt wissen wir warum. Wie eine Rakete schießt der Pole zu seinen Double Tours in die Höhe, die Landungen sind weich und schöner als im Lehrbuch. Wenn er im Balkon-Pas-de-deux zu seinen ersten Sprüngen abhebt, dann sind das nicht nur atemberaubend hohe Sätze, sondern dann gibt der Schwung, mit dem sein ganzer Körper die Musik in jeder Bewegung aufnimmt, wirklich Romeos Freude und Beseelung wieder. Mit dieser Technik braucht der schlanke, große Solist keinerlei internationalen Vergleich zu scheuen. Das sieht nicht wie die zirzenische Kraftmeierei eines Carlos Acosta aus, aber auch nicht wie Danseur-Noble-Klarheit eines Vladimir Malakhov oder Johan Kobborg, die man schon wegen der reinen Schönheit ihrer Linienführung bewundert - Barankiewicz tanzt frisch, natürlich und so mühelos, dass seine sensationelle Technik völlig selbstverständlich wirkt. Auch sein Spiel ist frisch und natürlich, getragen eher von der stürmischen Begeisterung der ersten Liebe als vom Shakespearschen Bewusstsein der drohenden Tragödie.

Aber was soll man mit einem solch literarischen Anspruch zu den Stuttgarter Mercutios sagen, die zwar munter und technisch flink durch die Aufführungen wirbeln, die aber schon seit Jahren nicht mehr die innere Tiefe von Shakespeares Figur ermessen. In Mercutios einsamem Solo auf dem Ball etwa, bei dem schon keiner der Capulet-Familie mehr zuschaut, hat Cranko dem tragikomischen Clown eigentlich eine überschäumende, fast schon philosophische Lebensfreude auf den Leib choreografiert. Aber ach, es endet fast immer als plumpe Artistennummer fürs jubelnde Publikum. Vielleicht kann Egon Madsen, wenn er in der nächsten Saison als Gastballettmeister kommt, mit Lempertz, Gauthier, Ortega und Co. an der Interpretation dieser Figur arbeiten.

Barankiewicz' natürliches Spiel tut seiner Julia gut: Sue Jin Kang wirkt lange nicht mehr so manieriert wie früher und ist sparsamer in ihrer Gestik. Fast möchte man sagen, ihre Interpretation hat an innerer Ruhe und Altersweisheit gewonnen, dabei sieht sie aus wie das blühende Leben. Die erste neue Julia, die junge Spanierin Alicia Amatriain, macht alles perfekt richtig, was man ihr beigebracht hat, sie bedenkt jede Nuance. Ihr Solo auf dem Ball zum Beispiel tanzt sie leicht und wunderschön, sie biegt sich in den Pas de deux wie eine Feder. Warum nur glaubt man ihr kein einziges Gefühl, warum wirkt alles von ihrem Hollywoodlächeln bis zu den ständig, ob aus Leidenschaft oder Verzweiflung überspreizten Händen aufgesetzt und künstlich? Das Fest betritt diese Julia im ersten Akt nicht als scheue Debütantin, sondern in der sicheren Überzeugung, alsbald der Star der Party zu sein. Ihr entsetzter Schrei im Grab ist hoffnungslos übertrieben. In ihrer unbescheidenen Einstellung, dass die Choreografie dem Ruhme des Tänzers dient und nicht andersherum, ähnelt Amatriain der ehemaligen Stuttgarter Solistin Margaret Illmann. Höchste Zeit, dass Julia Krämer auf die Bühne zurückkehrt.

Amatriains Romeo Jason Reilly besticht vor allem durch seine Sicherheit und Stärke als Partner - wo bei Barankiewicz die Sprünge mühelos aussehen, sind es hier die schwierigen Hebungen und die typisch Crankoschen Flips. Entsprechend fließend und schön wirken bei diesem Paar die Pas de deux. Reilly spielt die Rolle allerdings doch eher sanft und zurückhaltend, wodurch er neben seiner exaltierten Julia immer wieder unterzugehen droht - eigentlich kann er mehr. Geradezu beängstigend ist, mit welchem Format Jiri Jelinek die Rolle des Tybalt erfüllt, wie er Aspekte in den dunklen, unheimlichen Charakter entdeckt, die man noch nie zuvor gesehen hat. Was für ein großartiger Tänzer-Darsteller, was für ein Gewinn fürs Stuttgarter Ballett!

Statt „Onegin“, an dessen komplizierten Charakteren sich die meisten Stuttgarter Solisten im Augenblick noch die Zähne ausbeißen, ist im Augenblick also eher Crankos „Romeo“ die Visitenkarte der Kompanie. Wenn das Werk mit dem Enthusiasmus getanzt wird, der bei der Wiederaufnahme sämtliche Mitwirkenden bis zum letzten Bewohner von Verona erfüllte, dann können sich die Stuttgarter damit auf jeder Bühne der Welt sehen lassen.

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