„Der Nussknacker“ am Ballett Leipzig

„Der Nussknacker“ am Ballett Leipzig

Nicht zuckerfrei

Spielzeiteröffnung: An der Oper Leipzig tanzt der Nussknacker

Am herrlich spätsommerlichen Samstag zeigte das Ballett Leipzig in Jean-Philippe Durys Choreografie einen „Nussknacker“, der aus weitgehend traditionell bekömmlichen Zutaten gebacken wird. Kleine Auffrischungen schließt das nicht aus.

Leipzig, 27/09/2016

Dass Begehren durch Absenz entsteht ist ein psychologischer Fakt, der unter marktwirtschaftlichen Aspekten ein Problem mit sich bringt: Absenz allein schafft keinen ökonomischen Mehrwert. Weshalb dann wohl nicht nur Supermärkte längst schon wieder Spekulatius und Lebkuchen anbieten, sondern auch die Oper Leipzig am herrlich spätsommerlichen Samstag die neue Spielzeit gleich mit ihrer diesjährigen Weihnachtsbäckerei eröffnete: Peter Tschaikowskis „Nussknacker“-Ballett (Choreografie: Jean-Philippe Dury) ließ vor ausverkauftem Haus für heimelige zwei Stunden nicht nur die Schneeflöckchen tanzen.

Nun kann man es drehen und wenden wie man will: Tschaikowskis „Nussknacker“ ist eine recht zuckrige Angelegenheit. Und als solche ein gutes Stück entfernt von dem, was E.T.A. Hoffmanns literarische Vorlage „Nussknacker und Mäusekönig“ darstellt. Nämlich eine mit durchaus grotesk-dämonischen Zügen versehene Phantasmagorie, die sich ihrerseits der Neigung des Autors zu einschlägig berauschenden Opium-Extrakten mindestens mit verdankt.

Züge, die indes sowohl in der Bearbeitung der Novelle durch Alexandre Dumas d.Ä. gut zwei Jahrzehnte nach Hoffmanns Tod, vor allem aber in deren Adaption durch Tschaikowski, bestenfalls unterschwellig erkennbar sind, weil sie ausgesprochen effizient domestiziert (überzuckert) wurden. Der Erfolg freilich gab dieser Form laxer „Werktreue“ (die eben kein modernes Phänomen ist) recht. Tschaikowskis Ballett gehört zu den populärsten Werken des Komponisten. Bis heute ein weihnachtliches Muss, bei dem sich eventuell nur eine Frage stellen mag: Ob und wenn ja wie, die jeweilige Inszenierung etwas von jenem Zug Hoffmannschen Seelendunkels zurück ans Bühnenlicht holt.

Welches dann in Durys Choreografie, nachdem der geschickt Schneefall suggerierende Vorhang sich geöffnet hat, dank Kaminfeuer und Weihnachstern auf großen Christbaum, so kuschlig strahlt und flackert, dass man es sofort als inszenatorische Programmatik begreift. Ganz klar, dieser „Nussknacker“ wird aus weitgehend traditionell bekömmlichen Zutaten gebacken. Kleine Auffrischungen schließt das nicht aus. Dynamik, szenischen Einfallsreichtum und einen guten Blick für choreografische Details auch nicht.

Zumal das im 1. Akt dicht gestreut ist. Also bei jener Weihnachtsabendzusammenkunft der Familie Silberhaus, die Dury atmosphärisch in Szene zu setzen weiß. In einer hier (noch) ganz herrschaftlichen Kulisse, der die mit Blick aufs 19. Jahrhundert geschneiderten Kostüme in fast schon naturalistischer Manier entsprechen (Bühne: Yoko Seyama, Kostüme: Aleksandar Noshpal). Wozu passt, wie Dury dem Gewusel von Kindern und Erwachsenen bei aller choreografischen Stilisierung, eine einnehmende Natürlichkeit zu bewahren weiß. Darin durchaus auch ein reizvolles Sittenbild zeigend, inklusive der sich nach und nach mit Champagner abfüllenden Gouvernante, deren zunehmend trunkenes „Tänzeln“ Romy Avemarg zum kleinen Kabinettstück werden lässt.

Gelungen auch, wie sich dann Schlag Mitternacht dieses ganze Kulisse in Luft auflöst - das heißt, in die Luft entschwebt und somit hin in jenen Traumtanz, den die kleine Clara, hier noch mit dem ihr zuvor geschenkten Nussknacker fest im Arm auf einem überdimensionierten Sessel liegend, bald selbst durchtanzen soll. Eine tatsächlich traumhafte Szene, ob der man anstandslos hinnimmt, dass der garstige Nussknacker die Clara bald als fescher Prinz zum Pas de deux auffordert.

Welches zum gegebenen Zeitpunkt auch Madoka Ishikawa und David Iglesias Gonzalez bestens meistern. Wie hier überhaupt tänzerisch bestens gemeistert wird: der Mäusekönig (Kiyonobu Negishi) zeigt seine Begehrlichkeiten in geschmeidiger Gefährlichkeit- wenn auch mit einer eher an einen karietösen Nasenbär erinnernden Maske. Die Schneekönigin (Stéphanie Zsitva-Gerbal) wirbelt anmutig, und die Zuckerfee (Yoojin Jang) trippelt ebenso.

Das röchelt hier nie in jener Sterilität, die mancher Ballettpurist ja immer noch als technische Akkuratesse begreift- wogt dann allerdings solistisch, wie auch in den zahlreichen Gruppendarbietungen zunehmend auf den choreografisch allzu harmonischen Wogen der Ausgewogenheit. Gilt selbst für die gelegentlichen HipHop-Moves (eine der erwähnten Auffrischungen), die hier wie klein geraspelte Nüsschen in warmer Schokolade aufscheinen.

Und man möge bitte verzeihen, dass hier ständig die kulinarische Metapher strapaziert wird - aber was will man machen? Die Reise führt nun mal ins Land der Zuckerfee, welches dann auf der Bühne im zweiten Akt des Balletts auch noch wie das Innere einer Pralinenschachtel aufscheint. Ob das so gewollt ist oder nicht, sei hier mal dahingestellt. Wichtiger ist jetzt ohnehin noch etwas anderes - und um auch dafür einfach noch im bewährten semantischen Feld zu bleiben: Dass das Gewandhausorchester (Leitung: Christoph Gedschold) Tschaikowskis Musik so süffig wie eben warme Schokolade kredenzt, war zu erwarten - wie wenig zuckrig aber, wie leicht, elegant und frisch zugleich dann diese ja wahrlich allzu bekannten Melodien hier zu Gehör gebracht werden, ist indes schon verblüffend.
 

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