„Deux“ von Jenny Beyer

„Deux“ von Jenny Beyer

Ballet Deconstructed

Ursina Tossi und Jenny Beyer im Gespräch

Die etablierten Hamburger Choreografinnen proben derzeit auf Kampnagel an ihren Stücken, in denen sie sich kritisch mit Ballett auseinandersetzen. In einem offenen Gespräch reflektieren sie über ihre Arbeitsweise, ihren Bezug zum Ballett und ihr Bemühen um einen besseren Zugang zum Tanz.

Hamburg, 12/12/2022

Es gibt Gesprächsbedarf. Das wird ganz offenbar, als ich mich am Montagmorgen auf der Probebühne mit den Hamburger Choreografinnen Ursina Tossi und Jenny Beyer treffe. Beide proben sie gerade auf Kampnagel ihre Produktionen, die sich kritisch mit dem Ballett auseinandersetzen. Ursina Tossis Team befindet sich bereits in den Endproben, ihr „Swan Fate“ wird am 14. Dezember Premiere feiern. Jenny Beyer hat noch ein wenig mehr Zeit. „Ensemble“ wird vom 18. bis 21. Januar auf Kampnagel zu sehen sein. Dass ein Gespräch über die Strukturen des Balletts, seine Verbindungen zum Zeitgenössischen Tanz und über die persönlichen Verbindungen der Choreografinnen zu diesem Thema ein Fass ohne Boden ist, ist wohl keine Überraschung. Und dennoch entpuppt sich das offene Gespräch der wohl etabliertesten Choreografinnen der Hamburger Freien Szene auch als ein wertvoller Moment des produktiven Austauschs untereinander.

Ursina Tossis und Jenny Beyers kritischer Umgang mit dem Ballett resultiert aus unterschiedlichen biografischen Hintergründen, die letztlich doch wieder auf dieselben sich dahinter verbergenden Strukturen verweisen. Die Schlagworte Klassismus und problematische Körperideale fallen da in den Raum. Während der Traum von Ballettunterricht in Ursina Tossis Kindheit aus finanziellen Gründen unverwirklicht blieb, wurde Jenny Beyer bei einer Audition an der Ballettschule des Hamburg Ballett aus dem Grund nicht genommen, dass die Kommission die damals Neunjährige, ungeachtet ihres Talents, als zu dick empfand.

Beide erlangten sie schlussendlich doch einen professionellen Tanzausbildungsplatz – Ursina Tossi startete mit 23 Jahren eine von Ballett geprägte Ausbildung in Ludwigshafen, Jenny Beyer mit 14 an der Ballettschule des Hamburg Balletts – rückblickend sprechen sie über diese Zeit allerdings eher negativ. „Es war schon eine toxische Ausbildung, die ich da erlebt habe,“ meint Ursina Tossi und erzählt davon, dass die Lehrer*innen an ihrer Akademie regelmäßiges Wiegen androhten. „Man hat einfach von der Atmosphäre her gemerkt, dass die Lehrer*innen ihrerseits von ihrer autoritären Ausbildung traumatisiert waren und uns in ihrer Traumatisierung oft überfordert haben mit Dingen, mit denen wir nicht klarkamen.“ Jenny Beyer wiederum berichtet von einem ambivalenten Gefühl während ihrer Ausbildungszeit, in dem sich der Stolz durch den äußeren Druck kontinuierlich mit den sich aufdrängenden Gedanken, nicht gut genug zu sein, mischte. Beide haben sie sich von der Ballettwelt distanziert und trotzdem kam das Interesse zurück, sich nun mit dem Ballett auseinanderzusetzen. 
 

„Ensemble“ ist der dritte Teil von Jenny Beyers „Encounter“-Trilogie. Gerne nimmt sie formale Fragen als Anlass für einen Probenprozess und setzte sich somit in Teil 1 („Début“) mit dem Solo und Teil 2 („Deux“) dem Pas de Deux auseinander. Im dritten Teil geht es nun um das Corps de Ballet. Die Ballettreferenz versteht Jenny Beyer dabei nur als kreativen Input, den sie ihrer sehr heterogenen Gruppe von Tänzer*innen anbietet. In der Zusammenstellung des Teams für „Ensemble“ war Jenny Beyer explizit auf der Suche nach einem diversen Ensemble – mit Tänzer*innen mit verschiedenen Hintergründen und künstlerischen Praktiken – gewesen: „Für mich stellt sich dann die Frage, was ein Unisono, das ich mit Corps de Ballet verbinde, in so einer Gruppe überhaupt sein kann, wenn die Voraussetzungen derselben technischen Prägung aus dem Ballett gar nicht da sind. Wir suchen also nach interessanten Anknüpfungspunkten und sehen das Format des Unisono als Angebot, mit dem wir spielen können, um die Details und Unterschiede jedes Menschen zu feiern. Unterschiede sieht sie als Chance, weshalb das Team im Probenprozess auch von „Drifts“ anstatt von „Fehlern“ im Tanz spricht.

In ihren Ausführungen spielt Jenny Beyer auf die sehr formalen Vorstellungen des Balletts darüber, was Tanz ist, an und erzählt, dass sie selbst eine Weile während ihrer zeitgenössischen Tanzausbildung in Rotterdam brauchte, um sich vom Leistungsprinzip und der „Ästhetikbrille“ zu lösen. „Mein Blick auf Körper und Tanz hat sich geändert. Und trotzdem ist das Ballett in meinem Körper drinnen und ich finde es interessant, mich damit auseinanderzusetzen, was auch positive Qualitäten sind, jenseits dieses ganzen Leistungsprinzips und auch der Gewalt, die in der Ballettausbildung steckt und die ja auch zum jetzigen Zeitpunkt noch überhaupt nicht aufgearbeitet ist.“
 

Bei Ursina Tossi geht es noch weiter in Richtung einer Dekonstruktion bestehender mit dem Ballettkanon verknüpfter Strukturen. Dass sich das Team kritisch mit „Schwanensee“ beschäftigt, hat einen einfachen Grund: „Jeder westeuropäische Mensch kennt zumindest den Titel. Da sind sofort die weißen Tutus und andere kulturelle Bilder im Kopf.“ Wichtig ist ihr dabei, sich über die Körper Gedanken zu machen, die nicht zur Ballettwelt gehören: „Wir setzen uns auseinander mit der gewaltvollen Geschichte von Ballett und der Gewalt, die auch heute noch ausgeübt und auch sichtbar auf der Bühne wird. Was abgebildet wird, ist Macht, und was gefordert wird vom Körper, ist Kontrolle. Und das funktioniert nur durch eine Spaltung in die Instanz, die fordert, und die, die folgt – und das ist dann der Körper selbst. Diese Spaltung als Körpertechnik hat uns interessiert.“

Grundlage für den Probenprozess war eine Recherchewoche mit Manrique (Umberto Acosta Rodriguez), der zehn Jahre am kubanischen Staatsballett war und dort als einer von wohl nur zwei People of Colour weltweit den Siegfried in „Schwanensee“ getanzt hat. „Wir haben über die Art und Weise gesprochen, wie ihm „Schwanensee“ damals nahegelegt wurde, wie er seine Ausbildung wahrgenommen hat, wie er die Balletttechnik an seinem Körper erlebt hat.“

Wie bei Jenny Beyer kommen die Tänzer*innen in „Swan Fate“ aus unterschiedlichen Kontexten, Kulturen und Tanzstilen. Ballettreferenzen werden dabei vereint mit Hip-Hop oder Urban Styles wie Waacking. „Wenn wir mit etwas wie „Schwanensee“ arbeiten, wird das komplett zerlegt,“ meint Ursina Tossi zu ihrer Praxis. „Wir haben uns zwar mit dem Plot auseinandergesetzt, aber nicht mit Rollen gearbeitet. Wir haben mit den Ideen geprobt, die beim Angucken von „Schwanensee“ gekommen sind. Aus einem Pas de deux wurde z.B. Pas de troix. Oder wir haben an einer Perspektivenvervielfältigung der Plotinterpretationen gearbeitet.“ Trotz des dekonstruierenden Ansatzes betont Ursina Tossi den Spaß am Umgang mit „Schwanensee“ und das generelle Interesse am Ballett seitens des Teams. „In anderen Ausbildungen wird das Ballett nur am Rande kennengelernt. Daraus ist ein spielerischer Umgang mit dem Bild, das man von Ballett hat, entstanden. Die Lust, sich darin auszudrücken, hat mich überrascht, aber dann total motiviert.“
 

Ein Schwerpunkt in Ursina Tossis Arbeit besteht in der Bemühung um eine bessere Zugänglichkeit für ein breiteres Publikum zum Tanz. Dodzi Dougban, ein tauber zeitgenössischer und Hip-Hop Tänzer, tanzt im Ensemble und nutzt Deutsche Gebärdensprache, um Textpassagen zu übersetzen oder in Gebärdensprach-Poesie zu übertragen. Zusätzlich berät er das Team von „Swan Fate“ in Zugänglichkeitsfragen. Außerdem weben die Beteiligten der Produktion die sogenannte integrierte Audiodeskription ein. Das funktioniert einerseits durch eine Beschreibung des Bühnengeschehens von außen, andererseits aber auch durch eine Selbstbeschreibung der Tänzer*innen. „Die Selbstbeschreibung kann auch eine Selbstermächtigung sein, weil ich Kriterien vorgeben kann, wie ich beschreiben werden will, wenn ich mich bewege. Und ich kann mich selbst äußern, was in klassischen Audiobeschreibungen nicht der Fall ist. Da werden häufig rassistische, sexistische oder anderweitig diskriminierende Stereotype reproduziert. Eine queer-feministische integrierte Audiobeschreibung fragt erst einmal danach, wie jemand beschrieben werden will, und stellt Vorschläge zur Disposition.“

Das Team versteht die integrierte Audiodeskription und die dazugehörige Soundebene nicht als Übersetzung des Stücks, sondern vielmehr als gleichwertig existierendes Parallelstück, dass nicht nur die Zugangsbarrieren, die insbesondere das Ballett durch seine spezifischen Codes, aber auch der Zeitgenössische Tanz mit sich bringt, abbaut, sondern auch für das sehende Publikum ein Zugewinn sein kann. Ursina Tossi ist überzeugt: „Ich glaube, dass die Stücke der Zukunft alle integrierte Audiobeschreibung haben sollten, in der ein oder anderen Form. 

Auch Jenny Beyer hat seit einigen Jahren eine einzigartige künstlerische Praxis entwickelt, um bessere Zugänge zum Tanz zu schaffen. Seit 2014 organisiert sie – durch ihre Förderung regelmäßig – die „Offenen Studios“, in der sie Menschen zum Austausch über ihre künstlerischen Prozesse einlädt. Mal findet das auf der Probebühne statt, mal besucht sie mit einigen Teammitgliedern Kulturzentren, wie beispielsweise das im Hamburger Stadtteil Eidelstedt. „Ich bringe dann immer Dinge mit, die wir sonst auch bei uns im Studio machen: Was passiert, wenn wir das hier bei Euch machen, was verändert sich? Dadurch entstehen automatisch Gedanken und Ansätze, die auch in die Stücke einfließen, nicht immer 1:1, aber Leute, die öfter zu Offenen Studios und dann zur Aufführung kommen, werden bestimmt Dinge wiedererkennen.“
 

Die Offenen Studios finden nicht nur dann statt, wenn Jenny Beyer konkret an ihren Stücken probt, sondern bieten den Teilnehmer*innen unabhängig davon eine Möglichkeit der Begegnung, einen Einblick in ihre künstlerische Praxis und animieren dazu, sich selbst zu bewegen. „Dahinter steckt der Wunsch, die Distanz zwischen meinem künstlerischen Schaffen und dem Publikum zu überbrücken. Ich liebe es, zu proben und Stücke zu machen, aber die meisten Menschen bekommen gar nicht viel davon mit. Ich finde schön, dass jedes offene Studio ein Erlebnis für sich ist, das nicht in einer Aufführung resultieren muss. Das entlastet die Stücke ein bisschen von dem Druck, dass in der Aufführung alles passieren muss: die Begegnung, die Ästhetik, die tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Thema. Die Prozesse sind viel größer. Wenn ich früher mit Leuten in Begegnung komme, passieren viele Dinge viel früher.“

Es ist eine der großen Herausforderungen des zeitgenössischen Theaters: Der Weg raus aus dem Elitarismus hin zu einem Ort, der für alle Menschen gleichwertig zugänglich sind. Ursina Tossi und Jenny Beyer haben dafür schon einen wichtigen Vorreiter-Schritt in die Praxis getan. Mögen es ihnen weitere Künstler*innen nachtun. 

„Swan Fate“ von Ursina Tossi vom 14. bis 17. Dezember, jeweils 21 Uhr, Kampnagel Hamburg
„Ensemble“ von Jenny Beyer vom 18. bis 21. Januar, jeweils 19.30 Uhr, Kampnagel Hamburg
 

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