Auf dem Sofa mit dem Stuttgarter Ballettwunder

Zur Eröffnung der Festwochen plaudert Ballettintendant Reid Anderson mit seiner Vorgängerin Marcia Haydée

Stuttgart, 07/02/2011

„Wir sind immer noch hier.“ In Reid Andersons Eröffnungs-Statement zu den Festwochen beim Stuttgarter Ballett schwingt neben Staunen auch Trotz mit. Das erklärt sich beim langen Weg über die Rampe hinauf ins Kammertheater, wo in zahlreichen Fotografien von Hannes Kilian die Geschichte der zwölf intensiven Jahre dokumentiert ist, die John Cranko in Stuttgart gewirkt hat. Viele hätten nach Crankos Tod gesagt, jetzt stirbt die Kompanie, so der Ballettintendant, aber: „Wir sind immer noch hier“. Und tatsächlich sind es genau die Protagonisten dieser schönen Schwarzweiß-Fotografien, die heute, vierzig bis fünfzig Jahre älter, traut vereint im Kammertheater sitzen - die Generation der Gründerväter, ja eigentlich das Stuttgarter Ballettwunder von damals: der jetzige Ballettintendant und seine Vorgängerin Marcia Haydée auf dem roten Sofa, die drei männlichen Starsolisten der damaligen Zeit nebeneinander im Publikum: Ray Barra, Richard Cragun und Egon Madsen.

Strahlend jung sehen sie auf den Fotografien und den nicht sehr scharfen, aber unendlich wertvollen Filmen von damals aus, die immer wieder das Gespräch zwischen Haydée und Anderson unterbrechen. Es ist ein Schwelgen in teuren Erinnerungen, wie so oft beim Stuttgarter Ballett, mit einigen bereits bekannten Anekdoten, die man immer wieder gerne erzählt bekommt, und mit manch neuen Geschichten von all den Choreografen, die Stuttgart in die Welt hinaus geschickt hat. Über den aufregend modernen „Orpheus“ von William Forsythe zum Beispiel, bei dessen Premiere 1979 viele Premierengäste türenschlagend hinausgestürmt waren: „Jetzt sind nur noch die da, die das Stück wirklich sehen wollen“, habe der Choreograf tröstend in der Pause zu seinen Tänzern gesagt, so Anderson. Oder über Forsythes allerersten Pas de deux „Urlicht“, der in nur einer Woche entstanden war (er wird im Rahmen der „Schmuck-Stücke“ gezeigt). „Billy ist eigentlich Marcias Verdienst. Marcia hat Billy gemacht“, sagte Anderson, der sich wiederum an Forsythes sprachgewaltige Beschreibungen erinnert: „Er war wie ein Poet, wenn er choreografierte“.

Sie sprachen von Uwe Scholz und seinen schlimmen Depressionen während der Arbeit an der „Siebten Sinfonie“, von Kenneth MacMillan und seinen Schwierigkeiten mit dem ehrwürdigen Londoner Opernhaus, von Crankos Nachfolger Glen Tetley, der so kurz Ballettdirektor war und von dem sie doch beide so viel gelernt haben: „Es gibt eine Katharina vor Tetley und eine Katharina nach Tetley“, sagte Haydée. Und sie landeten immer wieder bei Cranko, in den 60er Jahren und der damaligen Atmosphäre der Kreativität. „Die Deutschen waren sehr offen“, erinnerte sich Anderson an das damalige Publikum, „sauwohl“ hätte er sich als junger Ausländer nicht nur in der Ballettkompanie gefühlt. Mit der trockenen Ironie, die beim Posten des Stuttgarter Ballettdirektors wohl zu den Einstellungsbedingungen gehört, erzählte Haydée, dass der geniale Cranko als Ballettmeister „eine Katastrophe“ war, weil er immer bereits choreografierte, anstatt ein ordentliches Training zum Aufwärmen zu geben. „Das ist ein Geschenk für dich“, hätte er ihr eines Tages in der Kantine ins Ohr geflüstert und auf einen neuen Tänzer gezeigt – es war der junge Amerikaner Richard Cragun, mit dem sie dann über dreißig Jahre eine der legendären Partnerschaften der Ballettgeschichte verband.

Was für ein unglaublich starker Partner er war, wie völlig schwerelos er die Haydée aussehen ließ, konnte man in den Filmausschnitten aus „Der Widerspenstigen Zähmung“ noch einmal bewundern: „Cranko sah mich immer oben“, so die Ballerina. Er hätte damals stark daran gezweifelt, ob jemand diese schwierigen Hebungen je nachtanzen könne, schilderte Anderson das Entstehen des letzten „Zähmungs“-Pas-de-deux. An die 600 ehemalige Tänzer habe man eingeladen, so Anderson, fast 200 werden kommen, viele sind schon da und saßen bei den ersten Veranstaltungen im Publikum, die großartige Forsythe-Tänzerin Nora Kimball zum Beispiel, die keinen einzigen Tag älter geworden ist. Viele von ihnen unterrichten, manche tanzen noch immer, manche der ehemaligen Stars sind an einer großen Aufgabe gescheitert und einige konkurrierten um den gleichen Job. Aber sie kommen alle zurück, wenn es gilt, das Stuttgarter Ballett zu feiern. Das ist wahrscheinlich das Geheimnis dieser Kompanie: dass sie „immer noch da“ sind, dass Crankos Genie und menschliche Wärme seine Tänzer so eng mit dem Ort verbunden hat, wo sie zu großen Künstlern geworden sind, dass sie immer wieder nach Stuttgart zurückkehren.
 

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