Von Fremdheit und Melancholie

Hans Henning Paar präsentiert seine „Winterreise“ am Münchner Gärtnerplatztheater

München, 18/01/2010

Handlungsballette, mit großem Tänzereinsatz und aufwendiger Ausstattung, wie sie noch John Cranko in den 60er Jahren so exquisit entwarf, sind in Ballett und Tanztheater als Neukreationen fast ein Ding der Vergangenheit. Die zeitgenössischen Tanzschöpfer choreografieren für ihre Abende assoziative Bilder oder halb-erzählerische Miniaturen. Da bietet sich als Musik ein Lieder-Zyklus wie Franz-Schuberts „Winterreise“ (nach Gedichten von Wilhelm Müller) geradezu an.

Hans Henning Paar, in der dritten Saison Tanzchef am Münchner Gärtnerplatztheater, choreografierte jetzt Hans Zenders Bearbeitung von Schuberts „Winterreise“, die 1993 vom Frankfurter Ensemble Modern uraufgeführt wurde. Für den 73-jährigen Komponisten, der sich mit seinen experimentellen Kompositionen einen Namen machte und zur Zeit an einem Auftragswerk für die musica viva arbeitet, ist seine „Interpretation für Tenor und kleines Orchester“ ein Versuch, heutige Hörer an die Romantik heranzuführen.

Er hat in die Schubert-Partitur (die zu Dreivierteln belassen ist) eine moderne Klangwelt eingezogen, die -- leichter, spröder und rhythmischer -- ein allzu getragenes romantisches Pathos verhindert. Aber die Grundstimmung ist geblieben: Hier besingt ein von der Liebe und dem Leben enttäuschter „Wanderer“ seine schmerzhaft erlebte Fremdheit, seine tiefe Traurigkeit. Hans Henning Paar gibt dieser Fremdheit und Melancholie gleich schon zu Beginn körperlichen und räumlichen Ausdruck. Die abstrakte kahle Bühne - im Hintergrund nur eine gläserne Trennwand - liegt in grauschattig deprimierendem Licht. Und seine Tänzer, die immer wieder von rechts und links aus den Gassen kommen und puppenhaft mechanisch auf scheinbar vorgezeichneten Bahnen die Bühne überqueren, sind vornübergebeugte niedergedrückte Einzelwesen - Verlassene, Einsame.

Klugerweise hat Paar nicht versucht, Gedicht-Inhalte illustrierend nachzuerzählen. Mit Pas de deux, Trios, Quartetten und einer Gruppe von schwarzgekleideten skurrilen Party-Menschen fügt er der Instrumental-Musik und dem Gesang seine hoch dynamische Bewegungssprache als dritte Stimme hinzu. Höchstens, dass er mit Kostüm und in der Bewegung selbst Andeutungen wagt.

Im „Lindenbaum“ ist ein in lindgrünes Wams gekleideter, extrem hochgewachsener Tänzer - im Sinne des Wortes ein Baum von einem Mann - der starke stützende Partner für ein flirtendes Pärchen. Schuberts „Krähe“ erkennt man in einer äußerst zierlichen Tänzerin mit schwarzem Federkopfschmuck - ein Mensch-Vogelwesen mit aggressiv flattrigen Bewegungen. Mehr solcher Andeutungen hätten schon den Geschmack des Banalen.

Paars moderner Tanzstil ist voller virtuos verdrehter, auch akrobatisch zu Boden gehender Figuren und luftiger Partner-Hebungen. Lässt hier auch, als Echo auf die Musik, Gefühlsausbrüche aus der Mitte des Körpers zu. Und seine Tänzer sind hochfeine Instrumente für diesen Stil. Dennoch stellt sich im Laufe des Zyklus eine Empfindung von Einförmigkeit ein. Alle 24 Lieder zu vertanzen, war eben keine leichte Aufgabe. Das hätte wahrscheinlich nur eine Pina Bausch mit ihren tief durchdachten, tief durchfühlten Tanzbildern geschafft. Immerhin bemüht sich Henning Paar um Variation: mit tänzerischer Bewegung hinter der transparenten Trennwand, mit Aufhellung der düsteren Bühne bei textlich-musikalisch heiteren Passagen. Und vor allem durch die Tenöre, die als Wanderer unmittelbar ins Tanzgeschehen integriert sind: Robert Sellier, jugendlich frisch, hat die Partien der schönen Erinnerungen an die Geliebte, an einstige Naturberauschtheit; Ferdinand von Plettenberg, zurückhaltend, bedeckt, ist der Sänger des Winters, des Abschieds, der Todesahnungen.

Paars „Winterreise“ ist keine Kreation zum Jubeln, insgesamt dennoch eine solide in sich geschlossene Arbeit. Und Hans Zenders Rekomposition, eine Art Zeitreise durch die seit Schubert entwickelten Musikstile, ist bei Dirigent Andreas Kowalewitz und den 24 Musikern des Staatsorchesters in guten Händen.


Staatstheater am Gärtnerplatz 
19. 1., 19 Uhr 30; 23. 1., 19 Uhr; 27. 1., 19 Uhr 30; weitere Vorstellungen bis in den April; Karten unter 089/2185 1960

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