Zwischen Zeiten und Welten

Derevo mit der Vorpremiere ihrer neuen grandiosen Produktion „Mephisto Waltz“ in der Schaubühne

Leipzig, 11/12/2010

Grandios. Nochmal? Grandios war dieser Abend mit Derevo. Tod, Himmel, Liebe, Trauer, Komik, Pantomime, Butoh, Walzer, Groteske, Folklore, Russland – wie kann man das alles unter einen Hut bringen? Der Hut von Derevo jedenfalls schien bei der Vorpremiere von „Mephisto Waltz“ am Donnerstag in der Schaubühne riesig. Auch wenn der Hype um die Hellerauer Truppe nach grober Kenntnis der Formensprache nachgelassen hat, bedeutet dies noch lange nicht, dass dieses Theater nicht mehr zum Besten gehörte, was es hinieden gibt.

Das Stück hat wie üblich kaum Struktur – Liszt ist nur schwacher Bezugspunkt. Die Nummern sind Perlen einer bunten Kette von Verrücktheiten. Inspiration ist die russische Avantgarde, die zu den schillerndsten und tiefgründigsten Materialarsenalen überhaupt zählt. So bedienen sich Derevo denn auch aus Symbolismus, Akmeismus, Dadaismus. Jene Strömungen speisen sich aus einem apokalyptischen Bewusstsein, das sowohl in Spiritismus als auch in Klarheit und Ironie ihren Ausdruck findet. Wie sehr einen derart angegraute Stile berühren können, ist frappierend.

Die Bühne ist versehen mit unzähligen weißen Kerben, die den Raum völlig verschrägen. Die Kostüme der Akteure tarnen sich auf dem Untergrund, die Hosen flattern bei jeder Bewegung wie Insektenflügel. Dazwischen Anton Adassinskij im liturgischen Kleid mit teuflischem Gesicht einen spastischen Walzer tanzend. Eigentlich reichte dies, man könnte beglückt nach Hause treiben. Aber es ist nur Auftakt eines überbordenden Reigens. Da werden zu diffusen Klängen riesige Schneebälle über die Bühne gerollt, erscheinen aus Nebelschwaden Mischwesen aus Ziege und Mensch, flattern Vögel, fliegen Tücher, fällt Schnee, der die unstete Unterlage für Bewegungen bildet und per Windstoß nachzeichnet. Stärker als die wunderschön-schrägen Materialien sind die Imaginationen, die durch sparsamste Bewegungstechniken und mimische Marginalien in Gang gesetzt werden. Etwa wenn eine Windmaschine Schnee wegbläst und die liegenden Tänzer mitwirbelt oder der geniale Adassinskij ein unsichtbares Vertikalseil verknotet und man unwillkürlich meint, der Himmel müsse gleich davonfliegen, wenn er es nicht hielte. Ebenso eindrücklich: der Schneemann, der auf eine Vogelscheuche zuwackelt und ihr seinen Schirm vermacht, um dann zu schmelzen – das Lachen bleibt im Halse stecken. Tänzerisch ist das immer auf höchstem Niveau: Die Bewegungen sind Körpertechniken des Alltags präzise entlehnt und erhöhen die Relevanz des Tänzerischen. Auch die volkstümlichen Anleihen weisen der Folklore ihren Rang als Medium eines anderen Wissens zu.

„Mephisto Waltz“ ist grimmiger sibirischer Winter und heißer asiatischer Sommernachmittag, ist gestern, heute und morgen. Die karnevaleske Aufstellung der Figuren und Szenen lässt einen zwischen Zeiten, zwischen Welten rutschen. Dabei wuchert der Sinn und explodieren die Emotionen – ein Fest. Unbedingt hingehen!

www.derevo.org / www.schaubuehne.com

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