Erforschung eines „Unfalls im Geiste“

New Yorks Cedar Lake Ballet mit Cherkaouis „Orbo Novo“ in Neuss

Neuss, 28/01/2010

Das hierzulande noch relativ unbekannte Cedar Lake Contemporary Ballet aus New York, 1993 von der Tänzerin Nancy Lauri gegründet, befindet sich auf einer ausgedehnten Deutschland-Tournee. Mit Choreografien von Jacopo Godani, Jo Stromgren und Didy Veldman gastiert es in Bonn und in Leverkusen, in Remscheid, Wolfsburg und Schweinfurt. Aber nur beim Tourneestart im rheinischen Neuss war – in europäischer Erstaufführung - das Stück zu sehen, dem seit seiner Uraufführung beim Festival von Jacob’s Pillow im letzten Sommer der größte Ruf voran eilte: des Belgiers Sidi Larbi Cherkaoui 75-Minuten-Choreografie „Orbo Novo“ (Neue Welt). „Orbo Novo“ ist eines jener Tanzstücke, die sich – wie manche Arbeit von William Forsythe – eher philosophische als ästhetische Fragen und die Gattung vor im Grunde unlösbare Aufgaben stellen. Ausgangspunkt der Choreografie ist das Buch „My Stroke of Insight“ von Jill Bolte Taylor, die einen Schlaganfall erlitt und danach das Gefühl hatte, in eine „rechte“ und eine „linke Hemisphäre“ zu zerfallen und Jahre brauchte, um beide Hemisphären einigermaßen in Einklang zu bringen. Cherkaoui, in kürzester Zeit unter die wichtigsten Choreografen des neuen Tanzes aufgerückt, versucht erklärtermaßen, diesen „Unfall im Geiste“ zu erforschen.

Angetrieben von einer dunkel strömenden Musik für Streichquartett plus Piano von Szymon Brzóska („wie fließendes Blut“, sagt der Choreograf) turnen die fünfzehn Tänzer von Cedar Lake durch ein Kletterlabyrinth (von Alexander Dodge), das aus verschiebbaren, wie ein großflächiges Gitter wirkenden Wänden besteht und den Tanzenden immer neue Räume eröffnet, ohne sie doch aus ihrem existentiellen Gefängnis je wirklich zu entlassen. Nach solistischem Beginn, bei dem sich Frauen und Männer, indem sie sich ihren Käfigen entwinden, suchen und wieder verlieren, versammelt der Choreograf sich ständig neu formierende Tänzergruppen in der Bühnenmitte und lässt sie zu Disco-Bewegungen Bolte Taylors Texte – die ein Laufband zusätzlich in deutscher Übersetzung wiedergibt – memorieren. Es ist die schwächste Phase des gesamten Stücks. Doch wenn Cherkaoui die Texte über Bord wirft und Bolte Taylors Klage über ihr gespaltenes Ich in die abstrakte Sprache des Tanzes übersetzt, gewinnt die Aufführung fast augenblicklich Qualität und Fahrt. In der gesamten zweiten Hälfte von „Orbo Novo“ wird deutlich, welch fabelhafter Choreograf Cherkaoui sein kann, wenn er sich auf die Kraft der Körper und Bewegungen konzentriert, anstatt sich der Krücken fragwürdiger fremder Texte zu bedienen.

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