Bewegungskalligrafin neben Reisbahnen

David Brandstätter und Malgven Gerbes mit „Notebook“ bei Dance 2010

München, 29/10/2010

Sie lässt einen zur Ruhe kommen, diese Aufführung von „Notebook“ bei DANCE im schwere reiter. Man darf sich auf das jeweils eine, einzelne und dann das nächste konzentrieren: anschauen, hören, wahrnehmen. Etwas, was man zumeist nicht oft, bewusst oder gar durchgängig im Alltag tut. Wer kommt da schon auf den Gedanken zu fragen, wie sich ein Haar anhört, das sich vom Kopf löst? Oder ob die Erinnerung an ein Geräusch das Geräusch der Erinnerung ist? In der technologisierten Wohlstandsgesellschaft ist Multitasking das dominierende Markenzeichen der Kultur, die sich die Aufgabe gestellt hat, eine Vielzahl von Aufgaben zu erinnern und zu bewältigen. Der Choreograph David Brandstetter hingegen schiebt mit einem großen Besen einen Haufen Reiskörner über den schwarzen Tanzteppich und kreiert mit ihnen akkurate Linien, Winkel und Kanten.

Ein Gegenentwurf, möglicherweise, wenn man so will. Räume entstehen, Grenzen und Durchgänge, Bahnen und Schienen, ein Zen-Garten. Die Assoziationen bleiben beim Betrachter. Kaum bedienen Brandstätter und seine Partnerin, die Architektin, Tänzerin und Choreografin Malvgens Gerbes, die entstandenen Freiräume, in dem sie durch Aktionen, Handlungen oder Gesten die Leerstellen mit einer Bedeutung füllen würden. So durchgängig wie möglich spielen sie die performative Funktion der Aufführung aus und schubsen ihren Betrachter hinein in eine Wahrnehmungsordnung der reinen Anschauung.

In einem großen Moment in der zweiten Hälfte des Abends findet dieses Interesse eine Versinnbildlichung. Gerbes sitzt mit dem Rücken zum Publikum vor der großen Wand und betrachtet, wie die Zuschauer, die meterhoch projizierten Filmbilder, die Julien Crépieux in Asien aufgenommen und in unregelmäßigem Rhythmus zusammengeschnitten hat und die mit Sounds unterlegt sind: eine still da liegende Straße, auf der ein kleiner Hund schnurgerade entlang tapst. Ein Meer aus wogenden Baumwipfeln. Ein Fahrradfahrer, der einem entgegenkommt. Ein See. Gerbes wird Teil der Bilder und ist, was sie ist. Eine sitzende Frau, deren Bild im Bild kurz die Illusion eines Zeitsprungs weckt.

Zwei Monate ist sie gemeinsam mit Brandstätter durch Südkorea und Japan gereist, dabei waren auch der Installations- und Videokünstler Julien Crépieux und der Sound Designer Christoph Engelke. Insgesamt haben sie in den vergangenen Jahren ein Jahr dort verbracht, sich hineinbegeben in andere Gerüche, Sounds, Töne, Menschengruppen – kurzum: in eine Vielzahl anderer Kulturen. Dort sind sie dann zu sammlern geworden: Von Gesten, Bewegungen, Dingen und Tätigkeiten, die sie in ihre eigene Bewegungskultur überführt haben, ohne sie zu verfremden oder zu bearbeiten. Sie wollten herausfinden, schreiben sie in dem umfangreichen Begleitmaterial, wie und wodurch Kultur wirkt, wie sie unsere Begriffe prägt.

Ihr performatives Konzept haben sie dann dem völlig anderen Verständnis von Wahrnehmung, Mitteilung, Leere und Fülle im asiatischen Denken entnommen und konsequent umgesetzt. Das macht den Zeitgeist ihres unabgeschlossenen Aufführungswerk aus, das sie als work in progress auffassen und letztlich sich daran versucht, Kunst alleinig als Ort von Wahrnehmung von weltlich Seiendem zu behaupten. Auf der Bühne wechseln sie sich ab. So ruhig wie Brandstetter den Besen führt oder später auf nahezu virtuose Weise mit demselben Besen auf einer Reiskörnerschiene schnell dahinpreschend einen fahrenden Zug modelliert, der durchs Land fährt, fasziniert Gerbes in ihren Soloparts als Gesten- und Bewegungskalligrafin, die im Wahrnehmungsraum des Betrachters eine Fülle an Details aus einer anderen Welt herzustellen und wieder zu vergehen vermag. So kreiert man in seiner Phantasie ein eigenes „Notebook“.

Es ist ein faszinierender und großartiger Abend, den das Münchner Publikum verstanden haben muss. Man darf nicht vergessen, dass es ihr großer Tanzpreisträger Micha Purucker war und ist, der den Weg zu dieser Kunstauffassung zuletzt mit „Echoes – 18 Gestures on Giacometti“ in der Landeshauptstadt geebnet hat.
 

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