Tragfähige Lesart und eine beredte choreografische Sprache

„Schwanen.See“: Tanztheater-Premiere in Trier

Trier, 12/03/2009

Trier an der Mosel, Deutschlands älteste Stadt, zieht durch römisches Weltkulturerbe, Dom und Kirchen als Jahrhunderte alte Stätten christlichen Glaubens sowie glanzvolle Architektur aus Renaissance und Barock Besucher aus aller Welt an. Sie pilgern nicht nur zu romanischen Benediktiner-Abteikirche St. Matthias sondern auch, insbesondere viele Chinesen, in die Brückenstraße 10 zum Geburtshaus von Karl Marx. Seit 1968 im Besitz der Friedrich-Ebert-Stiftung resümiert die 2005 neu konzipierte Ausstellung mit Blick auf unsere Gegenwart: „Angesichts der sich auftürmenden Probleme wird eine Auseinandersetzung mit Fragestellungen und Methoden von Karl Marx weiterhin sinnvoll sein“.
Das Theater Trier lockt mit einem vielseitigen Spielplan und spiegelt existenzielle Konflikte von „Lucia di Lammermoor“ bis „Des Teufels General“. Das Tanztheaterensemble von zwölf Damen und Herren wird seit 2005 von Sven Grützmacher geleitet. Ausgebildet an der Staatlichen Ballettschule Berlin und langjähriger Tänzererfahrung an der Komischen Oper Berlin und Solist in Saarbrücken versteht er sich als Geschichtenerzähler in moderner Bewegungssprache. Tradierte Stoffe wie „Giselle“ und „Bluthochzeit“ interessieren ihn wegen der gleichnishaften Spiegelung menschlichen Handelns und Fühlens.

Am vergangenen Sonntag stellte Sven Grützmacher mit „Schwanen.See“ eine eigene Version des Ballettklassikers vor. Die ungewöhnlich kühne musikalische Dramaturgie dieser sechszehnteiligen Szenenfolge erwächst aus der überzeugenden Verbindung von Teilen der originalen Schwanensee-Partitur op. 20 und Tschaikowskys berührender Sinfonie Nr. 6 h-moll op. 74, deren Petersburger Uraufführung der Komponist am 16. Oktober 1893 (drei Wochen vor seinem Cholera-Tod) selbst dirigierte. Die schmerzlich melancholische Grundstimmung der „Pathétique“ erweist sich für diese tanztheatrale Deutung als schlüssig, um die Gefühlswelt und das innere Leiden einer verzweifelnden Existenz erfahrbar zu machen. Grützmacher interessiert Siegfried (Tschaikowskys 'Alter Ego') als ein heutiger junger Mann, der an den Zwängen der Realität zu ersticken droht und sich in eine Reise ins Innere rettet. Für René Klötzer (Palucca Schule Dresden) ist dieser Siegfried die erste große Rolle. Pausenlos im Zentrum des Geschehens agiert er mit totalem Körpereinsatz und wechselnder dynamischer Amplitude. Um viele Ausdrucksnuancen bemüht, beglaubigt er den Konflikt des zerrissenen Individuums und dessen Drang nach Lebendigsein. Ein junger Mensch versucht dem gnadenlosen Anpassungsdruck und Konformismus zu widerstehen und der eigenen Emotionalität Ausdruck zu geben. Die Inszenierung exponiert Siegfried als Einsamen in einer Halle mit dicken Wänden, die einen Eisberg umschließen. Siegfrieds Sehnsucht kreiert Odette als weiße Lichtgestalt mit ausgebreiteten Armen. Susanne Wessel, die ebenfalls an der Palucca Schule studierte, tanzt Odette als ein Mädchen mit offenen Haaren, warmherzig einfühlsam und natürlich. Schwarz-weiße Paare in ritualisiert exzentrischen Gesten zerstören die Vision, nur eine rote Blume bleibt ihm. Kontrastreich entwirft Grützmacher im Walzer das Zerrbild einer Realität, der sich Siegfried angewidert entzieht. Öffentlich demütigt seine Mutter den eigenen Mann und verlustiert sich mit Rotbart. Beide werden zu Manipulatoren, nach deren Pfeife alles tanzt. David Scherzer, hochgewachsen im schwarzen Anzug mit rotem Glatzen-Tattoo, tanzt Rotbart als Spielmeister der Hölle. Seine ganzkörperlich groteske Geschmeidigkeit zaubert eine genaue Bewegungscharakteristik. Mit schnellen battierenden Beinen und vogelartigen Hüpfschritten ist sein Rotbart verschlagen servil und gefährlich präsent. Von verwandtem Kaliber – die neu engagierte Australierin Erin Kavanagh. Als Mutter agiert sie mit besitzergreifender Power, schrill, in ausladendenden Bewegungsfolgen.

Siegfried sucht Schutz im Rücken des Vaters (Noala de Aquino, berührend in seiner zunehmenden Leblosigkeit, wirkt eher als älterer Bruder), der kurzzeitig als Echo verlorener Träume agiert. Auf sich allein gestellt fällt und fliegt Siegfried. Ein Gehetzter und Getriebener, der voller Kraft gegen die Erstarrung durch Schläge auf den Oberschenkel ankämpft. Zur auftrumpfenden Coda aus dem sogenannten Pas de deux „Schwarzer Schwan“ wird der Vater als sensibler Fremdkörper malträtiert. In der Polonaise geht Siegfried offensiv in die Runde seiner Spukgestalten und beschwört erfolgreich sein Bild der Rosenfrau Odette. Als sie ihn berührt, färbt eine Eiswand sich rot. Die Paare in Rotbarts tanzendem Tollhaus springen über den Vater, stechen ihm die Augen aus.

Der Junge indes will seine Sehkraft bewahren. Fieberhaft streicht er sich immer wieder über die Augen bis die Mauern der Halle verschwinden. Rotes Astwerk, Nervenbahnen gleich, senkt sich über den Eisblock (Sinfonie Nr. 6). Die Sehnsucht führt Siegfried zu Gleichgesinnten. Weiße Wesen umkreisen ihn unisono (Fagottmotiv der Adagio Einleitung). Odette trägt Siegfried, Siegfried trägt Odette. Ein Pas de deux des behutsamen Miteinanders. Alle beobachten die Kraft der Liebe. Im Pulk mit Schwanenhals-Armen stehen sie Rotbart gegenüber. Odette drängt den schwarzen Magier, Giselle gleich, auf der Diagonalen von Siegfried fort. Die Idylle scheint ungetrübt (2. Satz): nicht ohne Komik strickt Odette mit blutrotem Faden. Siegfried sitzt neben ihr auf der gebrochenen Eisscholle. Das Paar ertastet sich wie Kinder während die weiße Gruppe mit dem Knäuel Fußball spielt. Siegfried rollt 'seinen' Lebensfaden auf; Rotbart reißt ihn an sich. Das Scherzo des 3. Satzes ist ein choreografisches Kabinettstück. Rotbart führt sechs Bräute, allesamt Mutter-Doubles, in einer messerscharfen Sprungfolge en face gegen Siegfried. Auf dem Höhepunkt des apokalyptischen Marsches reicht Rotbart ihm eine Armbrust (?). Siegfried schießt aus Notwehr. Klons verlachen ihn, doch Odette liegt tödlich getroffen. Siegfrieds Lebensnerv verlischt (4. Satz Adagio lamentoso). Er schmückt Odette mit roten Blüten, versenkt seinen Traum in ein Wasser-Grab. Mit freiem Oberkörper geht Siegfried in ein eisiges Nirgendwo. Die Inszenierung endet nicht als Requiem auf ein ungelebtes Leben. Völlig unerwartet und mit eruptiver Klangkraft der fortefortissimo-Apotheose der „Schwanensee“-Partitur schnellt Odette aus dem Wasser empor. Das Paar findet sich im Kuss und beide gehen zu den Harfenarpeggi in eine Landschaft zerborstener Eisschollen. Weiße Wesen trippeln, suchen das Einverständnis mit dem Publikum und feiern den Phönix menschlicher Schönheit und Kraft, der das Eis zum Schmelzen bringt.

Unter der musikalischen Leitung des jungen finnischen Dirigenten Valtteri Rauhalammi stellte sich das Trierer Orchester klangvoll und mit hörbarem attacca-Verve in den Dienst dieser spannungsvollen Neudeutung. Das Publikum goutierte mit starkem Beifall, dass es sich nicht um ein Nummernballett, sondern um ein dramatisches Tanztheater handelt.
Der Choreograf hat gemeinsam mit seinem Inszenierungsteam für sein Mini-Ensemble eine tragfähige Lesart und eine beredte choreografische Sprache gefunden. Sven Grützmachers pausenloses Tanzstück konturiert die Metapher vom „Schwanen.See“ wie eine Geheimadresse für Identität im Dickicht menschlicher Entfremdungen. Siegfrieds suchender Aufbruch nach Leben und Liebe bleibt aktuell.

„Unser größter Kulturschatz: Die Lebensfreude“ postuliert der Slogan Kulturland Rheinland-Pfalz. Auch in diesem Sinne lohnt ein Besuch.

Nächste Vorstellungen: Freitag, 13. 3. und Samstag 28.3.2009

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern