Kulturelle Bildung reine Glückssache?

Ein Gespräch mit Livia Patrizi über TanzZeit – Zeit für Tanz an Berliner Schulen

Berlin, 09/09/2008

Livia Patrizi ist Initiatorin und künstlerische Leiterin des Projektes „TanzZeit – Zeit für Tanz an Schulen“. Nach ihrer Tanzausbildung an der Folkwang Hochschule Essen folgten Engagements als Tänzerin u.a. beim Cullberg Ballett, mit Pina Bausch, Joachim Schlömer und Maguy Marin; seit 1990 arbeitet sie als freie Choreografin. Mit Beginn des neuen Schuljahres startet auch das Projekt „TanzZeit“ in sein drittes Jahr. Welche Bilanz ziehen Sie? 

LP: Das Projekt startete mit einem Rundbrief an alle Grundschulen Berlins. Jetzt existiert es drei Jahre und wir sind stolz und um viele Erfahrungen reicher. Uns geht es darum, zeitgenössischen Tanz an allgemeinbildenden Schulen zu vermitteln und Leidenschaft für die künstlerische Ausdruckskraft von Tanz zu wecken. Jetzt sind auch Oberstufenklassen an sozialen Brennpunktklassen sehr interessiert.

Ein Unterschied zu anderen Projekten ist die künstlerische Arbeit im Vormittagsbereich, weil wir nur dann alle Kinder erreichen. Wenn man von Chancengleichheit spricht in Deutschland, so ist diese in freiwilligen Nachmittagsangeboten aufgehoben. Eine Untersuchung des „Kulturbarometer“ stellt fest, dass nur 11% der Kinder und Jugendlichen Kulturangebote annehmen, davon werden nur 3% über die Schule erreicht. Im Vergleich zu anderen Ländern gibt es allerdings in Deutschland ein enormes Angebot im Freizeitbereich. Dem steht eine enorme Benachteiligung gegenüber. Kinder gehen nicht von allein. Nur engagierte Schulen bieten kulturelle Angebote. Ich plädiere in der kulturellen Bildung für eine nachhaltige Kooperation von Schul- und Freizeitprojekten. Das Problem ist nicht nur über niedrige Preise zu lösen. Vor allem müssen wir chancengleich Interessen wecken! Das bedeutet andere Strategien für kulturelle Bildungsarbeit zu erproben. Das versuchen wir im Vormittagsunterricht. Man kann Wissen vermitteln, denn nur durch Kenntnisse baut man Vorurteile ab.

Das Projekt steht und fällt mit dem Interesse der Lehrer. Tanz ist im Lehrplan den Fächern Musik und Sport angegliedert, wird aber aus Theorie- und Praxismangel zu wenig gemacht. TanzZeit wird auch innerhalb bestimmter Schulprofile wie Soziales Lernen (Poolstunden) von manchen Schulleitern sehr erfolgreich praktiziert. Für eine temporäre Erfahrung von einem Jahr ist dieser Weg gut und geht nicht zu Lasten anderer Fächer. Tanz schafft so eine permanente Ebene der Begegnungen von Schülern, Lehrern, Eltern und Künstlern. Wir haben derzeit sogar einige Schulen mit 5-6 Tanzprofilklassen. Nach den Erfahrungen der Startphase haben wir unser Konzept präzisiert. Im letzten Schuljahr hatten wir in Berlin 100 Klassen mit zwanzig Tanzdoppelstunden im Schulhalbjahr. Das ist zu wenig. Wir brauchen mindestens ein Jahr. TanzZeit umfasst drei Phasen höchst individueller Erfahrungen: Kennenlernphase, Prozessorientierte Phase und Präsentationsphase. Qualität statt Quantität (die uns anfangs mit über 6000 Schülern das öffentliche Interesse verschafft hat). Hätten wir klein angefangen, wären wir wohl von der Politik nicht wahrgenommen worden.

Der legendäre Satz von Choreograf Royston Maldoon „You can change your life in a dance class” scheint Ihre Arbeit für nachhaltige Chancengleichheit zu beflügeln? 

Für mich ist die Implementierung in den regulären Vormittagsunterricht notwendig. Nur im Klassenverband erreicht TanzZeit alle Schichten und Nationalitäten. Tanz vermittelt Bewegungsvielfalt, Körperwahrnehmung und -bewusstsein. Tanz stärkt das Selbstwertgefühl und schafft Voraussetzungen für viele positive Lernprozesse. Viele Lehrer bestätigen uns ein besseres Sozialverhalten in den Beziehungen der Kinder und Jugendlichen untereinander. Auf der einen Seite wollen wir Wissen vermitteln über Kunst. Anderseits machen Kinder die riesige Entdeckung, dass sie sich mit ihrem Körper ausdrücken können. Bewegung wird zur Sprache.

Ich unterrichte auch selbst in einer Sonderschule und manches ist für mich frustrierend, weil die Kinder dort extrem motiviert und lernbereit sind. Wenn man aber jungen Menschen sagt, du kannst nichts, erleben die Schüler sehr früh ihren „Sonderschulstempel“. Gerade auch diese Kinder brauchen Motivation, Anreiz, Erfolgserlebnisse. Man muss den Schlüssel finden. Kinder brauchen Berührung, Stille, zarte Momente. Sie können Konzentration erlernen. Das Vergnügen an der Stille kann man als körperlichen Prozess entdecken. Was mich freut bei unserem Projekt, ist die Kooperation zwischen zwei Welten. Der Spielraum für Lehrer ist komplex und begrenzt. In TanzZeit erleben Lehrer die Kinder von einer anderen Seite und umgekehrt, beide Seiten bekommen Erkenntnisse, die das Verhältnis zwischen zementierten Rollen positiv aufbrechen. Ich merke, wie viel Potenzial im zeitgenössischen Tanz steckt! Um es zu nutzen, braucht es mehr und kontinuierliches Interesse von Seiten der Bildungseinrichtungen.

Im Doppelhaushalt 2008/09 investiert Berlin Millionen in die Kultur. Der neue „Projektfond Kulturelle Bildung“ ist mit insgesamt 3,5 Mio. Euro speziell für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ausgerichtet. Hat „TanzZeit somit eine Langzeitförderung? 

Es war ein langer Kampf. Der Fond ist ursprünglich ein „Kind der Linkspartei“. Kultursenat, Bildungs- und Jugendsenat haben zusammengearbeitet. Dennoch gibt es sehr unterschiedliche Visionen der Wissensvermittlung von kultureller Bildung. Die Arbeit professioneller Künstlerinnen und Künstler sowohl im Profibereich als auch in den Kommunen (in England und Holland üblich) ist für Deutschland in dieser Breite neu. Der kulturelle Bildungsbereich wurde in Deutschland zu lange nur begrenzt auf den Freizeitbereich verstanden. Es gibt also viele Berührungsängste und auch Vorurteile von beiden Seiten. Künstler begegnen Kindern und Jugendlichen anders als Pädagogen. Man braucht beide Kompetenzen: Pädagogik und Kunst! Und es ist aus meiner Sicht gerade diese Ergänzung, die gut tut. Der „Fond“ ist eine prima Sache. Das ist das erste Mal, dass sich die Politik zu diesem wichtigen Schritt entschlossen hat. Gleichzeitig spiegelt er die Schwierigkeiten wider. Der Senat hat einen sechszehnköpfigen Beirat berufen sowie eine Jury, die über die Vergabe der Projektmittel entscheiden (in beiden Gremien ist bedauerlicherweise keine Persönlichkeit aus dem Tanzbereich). Es gibt sowohl temporäre Initiativen als auch längerfristige stadtweite Projekte mit Modellcharakter (wie TanzZeit), die gefördert werden. TanzZeit wurden Mittel in Höhe von 180 000 Euro bewilligt. Erstmals haben wir Gelder für die Infrastruktur bekommen. Erstmals hatten wir auch Mittel für die Schulen beantragt, diese Mittel sind in unserer Förderung zu kurz gekommen. Das bedeutet: Die Stadt trägt die Schulen nicht. So ist das Ergebnis für uns zweigesichtig. Wir wollen aber kein elitäres Projekt betreiben, sondern Tanz für alle. Deshalb haben wir ein dreigliedriges Finanzierungsmodell entwickelt. Wir werden sehen, wie die Resonanz der Schulen darauf ist. Wir starten jetzt mit 40 Klassen (teils komplett- teils freifinanziert) und 10 Klassen (sonderfinanziert über Drittmittel/Sponsoren) dafür erweitert auf ein Schuljahr. Die meisten TanzZeit-(Grund)Schulen gibt es in Neukölln, Kreuzberg und Schöneberg. Auch Haupt- Sonderschulen und Gymnasien signalisieren großes Interesse.

Jenseits von politischen Moden ist das Kunsterlebnis, gleich in welcher Sparte, eine Ergänzung zum Leben. Kinder und Jugendliche erleben den Spaß am Mitgestalten. Sie haben das Gefühl, selbst etwas zu schaffen! Das ist ein Erlebnis, das ihnen im Schulalltag oft fehlt.
 

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