Aus der Alten und der Neuen Welt

Balanchine, Cranko und Elo im „Variationen“-Abend des Stuttgarter Balletts

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Stuttgart, 01/11/2008

Drei Hochgewächse aus der Schlosskellerei des Stuttgarter Balletts: George Balanchines „Thema und Variationen“, John Crankos „Poème de l‘extase“ und Jorma Elos „Slice to Sharp“. Die Jahrgänge indessen täuschen. Balanchines Exerzitium stammt zwar aus dem Jahr 1947, aber seine Wurzeln reichen weiter zurück – bis nach St. Petersburg zurzeit von Petipas Zarenklassizismus. Fast hat man den Eindruck, Balanchine-Petipa hätte es zur Hochzeit des Württembergischen Königs Karl I. mit der Zarentochter Olga kreieren können. Von den Stuttgartern bravourös getanzt, mutet es an wie eine Hommage an die dynastische Verbindung der Württemberger mit den Romanows. Und Crankos ekstatisches Poeme zu Skrjabins orgiastischer Orchesterfantasie ist zwar etwas jünger, inzwischen aber auch schon 38 Jahre alt und hinterlässt, von Jürgen Rose nach Klimtschem Rezept gekeltert, einen schweren Nachgeschmack wie ein Esterhazy-Schwarzriesling vom Neusiedler See.

Jüngstes Produkt ist Elos „Slice to Sharp“, Jahrgang 2006, vom finnischen Emigranten angebaut im Hudson Valley im Staate New York. Der Abend im Großen Haus ist ein einziges grandioses tänzerisches Wein-Tasting – so recht nach dem Gusto der Stuttgarter Ballettfans, serviert zum Akkompagnement des Staatsorchesters unter seinem Maître James Tuggle (welches andere Opernhaus ist heutzutage sonst noch willens, ein so riesiges Orchesteraufgebot für diese Festivität zur Verfügung zu stellen?). Es demonstriert aufs glänzendste Reid Andersons vielseitige Planungskultur, die dem Stuttgarter Ballett heutzutage erlaubt, die verschiedensten Stile auf Hochglanz poliert zur Schau zu stellen.

Glanzstück, wie ein funkelndes Diamant-Diadem, ist die Balanchinesche Variationsfolge, angeführt von Friedemann Vogel (gerade nominiert als Kandidat für den „Best Male Dancer Award“ des London Critics Circle), mit seinen Double ronds de jambes en l'air und sinnverwirrenden Pirouetten, und Alicia Amatriain, mit ihren lächelnden Balancen und ihren Staccato-Pointen und ihrer Reverence in dem Abschnitt, wenn sie mit acht Kolleginnen tanzt. Und dann dieser Polonaisen-Schluss, wenn sich die Jungs zu den Damen gesellen und über die Bühne paradieren, dass man jeden Moment den Auftritt des Zaren höchstpersönlich erwartet. Hier tanzt das Stuttgarter Ballett wahrlich auf Weltspitzenniveau.

Und zeigt sich ebenso gewachsen der Wiener Sezessions-Salonkultur in Crankos „Poème de l'extase“ – hier nun mit Sue Jin Kang in der Fonteyn-Rolle der reifen Diva vor dem Hintergrund der ornamentalen K.u.k.-Décadence. Wie auf der berühmten Freudschen Couch lässt sie noch einmal die Amouren ihres Lebens fliegend-knatternd Revue passieren, spielt noch einmal mit einer letzten Versuchung in der Gestalt eines Musilschen Jüngling alias Marijn Rademaker, bevor sie sich in die Einsamkeit ihrer privaten Kapuzinergruft zurückzieht. Und wie Damiano Pettenella, Alexander Jones, Evan McKie und Jason Reilly sie bestürmen, ausgezogen-umhüllt von den flatternden Stoffbahnen aus den Wiener Werkstätten Kolo Mosers, gleichen sie den apotheotischen Engeln einer Apokalypse der Donau-Monarchie.

Als ob das nicht genug wäre der kulturhistorischen Assoziationen und Evokationen lässt Anderson sein Oktett aus zweimal vier Topsolisten, mit Amatriain, Hyo-Jung Kang, Myriam Simon und Katja Wünsche samt Jones, Reilly, Vogel und Alexander Zaitsev auch noch eine Stippvisite in der Neuen Welt absolvieren, wo ihnen der Finne Jorma Elo ein zuvor fürs New York City Ballet kreiertes Windenergie-Ballett eingerichtet hat. Tatsächlich kreisen ihre Arme wie überdimensionale Flügelschläge, mit denen sie die Luft um sich komprimieren, um sich in den Kosmos zu katapultieren. Nicht nur mit einem wunderbar ziselierten Pas de deux für Simon und Reilly erweist sich der Siebenundvierzigjährige als ein astronautischer Dynamo, der sich freilich von der rhythmischen Vitalität Vivaldis (wie weiland Cranko in seinem „L'Estro armonico“) wesentlich inspirierter zeigt als in dem doch etwas dünnstimmigen Prolog des Rosenkranz-Komponisten Heinrich Ignaz Biber. Auf jeden Fall gehört der Finne aus Boston zu Andersons interessantesten Entdeckungen jenseits des Atlantik.

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