Das verflixte Doppel-X

Drei Uraufführungen von Martin Schläpfer und Nils Christe beim ballettmainz

oe
Mainz, 10/02/2006

Drohend prangt das XX auf der Programmankündigung des zwanzigsten Mainzer Ballettabend der Schläpfer-Kompanie – eine Warnung vor tanzvermintem Gelände. Um halb elf zurückgekehrt von der Premiere im Großen Haus, schalte ich in meinem Hotelzimmer den Fernsehapparat ein – und sehe mich überwältigt von dem Bildersog des Spektakels aus dem Stadion von Turin anlässlich der Eröffnung der olympischen Winterspiele. Welch eine gigantische Choreografie der Massen, des Lichts, der Farben und Klänge, der Bewegung, der technischen Zaubereien! Und halte dagegen, was mir an Bildern aus dem Theater an diesem Abend im Gedächtnis haften geblieben ist: eine nicht coole, sondern kalte Folge der Stücke, von denen sich die beiden Schläpfer-Kreationen partout gegen die Musik sträuben – absichtlich gewiss, aber darum nicht weniger verstörend. Eine Verkünstlichung, die die Musik ihrer bewegungsstiftenden Lebenskraft beraubt – obgleich doch das Philharmonische Staatsorchester Mainz unter der Leitung von Thomas Dorsch mit von der Partie ist.

Der Beginn also „Marsch, Walzer, Polka“ von Schläpfer zu einer Auswahl von Stücken der Strauß-Dynastie. Gewiss hatte man kein Mainzer Neujahrskonzert erwartet, eher eine bittersüße Hommage aus dem Geist von Horvath oder zum Geburtstag von Thomas Bernhardt, aber jedenfalls nicht diese Art von Stop- und Go-Choreografie, die sich dem Fluss der Musik wie ein Perpetuum mobile des Coitus interruptus von Musik und Tanz entgegenstellt. Die Musik im Test als Bremswirkung der Choreografie. Das muss man sich erst einmal einfallen lassen. Der Radetzkymarsch als zackiger Gruß-August aus dem k.u.k.-Arsenal! Und dann also Beethovens VII., die sogenannte „Apotheose des Tanzes“, im weißen Bühnenraum von Rosalie mit den wie überdimensionalen Punchingbällen aus dem Schnürboden herabhängenden weißen Tränensäcken, in dem die Tänzer in ihren farbigen Leibchen und Turnhosen wie altägyptische Olympioniken aussehen.

Eine andere Mainzer Fastnachtbeichte? Mal auf Spitze, mal in barfüßig wirkenden Schläppchen – das Kaleidoskop eines choreografisch-musikalischen Derbys: Mainz gegen Bonn. Wenigstens gab es keine Sieger, sondern ein 0:0 (oder im Sinne dieses Programms X:X). Und mittendrin Nils Christes „Kleines Requiem“ à la Henryk M. Gorecki. Ganz und gar nicht ein van Manen-Imitat. Ein bestechendes Bühnenbild von Thomas Ruppert: eine riesige Bank mit Hohlräumen, die wie ein Uhrzeiger von den Tänzern diagonal herumgeschoben wird. Darauf sitzend eine trauernde Frauengestalt mit lang wallenden Haaren. Eine Delegierte der nahegelegenen Loreley? Schließlich befinden wir uns im Heine-Gedenkjahr! „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten ...“. Was ich mit Bestimmtheit weiß, ist, dass die Mainzer Tänzer, hier sieben von den zwanzig der Kompanie, pointiert auf die stilistisch so unterschiedlichen Anforderungen ihrer Choreografen eingehen. Und sich vermutlich schon auf XXI freuen, wenn sie in die Großjährigkeit entlassen werden.

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