Eine weitere Sprosse auf der Erfolgsleiter

Zwei neue Ballette von Martin Schläpfer und Nils Christe

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Mainz, 22/11/2004

Ist schon toll, wie für den Tanz engagierte Intendanten – wenn es ihnen denn gelingt, einen qualifizierten umtriebigen Choreografen zu engagieren – eine ganze Stadt ballettverrückt machen können! Das war vor Jahr und Tag der Fall, als Wazlaw Orlikowsky nach Basel ging und dort von 1955 bis 1967 die Stadt in einen regelrechten Ballettrausch katapultierte. Und das geschieht derzeit in Mainz, wo der Intendant Georges Delnon zusammen mit seinem Ballettchef Martin Schläpfer dem ballettmainz eine Spitzenposition in der Bundesliga gesichert hat (so, dass Stuttgart und Hamburg aufpassen müssen, dass sie in puncto choreografischer Qualität mit Mainz konkurrieren können).

Noch verdrängt man die Frage, was denn wohl in Mainz geschieht, wenn Delnon zur Spielzeit 2006/07 nach Basel wechselt. Soll man Schläpfer wünschen, dass er in Mainz bleibt und unter einem ähnlich ballettengagierten neuen Intendanten seine höchst erfolgreiche Arbeit dort fortsetzt – oder dass er an ein Haus mit einer größeren Kompanie wechselt und sich so einer neuen Herausforderung stellt (und endlich Abschied nehmen kann von der unsinnigen Nummerierung der Programme)? Keinerlei Ermüdungserscheinungen jedenfalls bei XVI von ballettmainz – eher das Gegenteil!

Die Zweitvorstellung an einem Montagabend im Kleinen Haus des Staatstheaters total ausverkauft, das Publikum mucksmäuschenstill, um hinterher die tollen Tänzer geradezu enthusiastisch zu feiern – die das sichtlich genießen, mit Recht, denn es sind zwei tolle Ballette, die Schläpfer und Nils Christe für sie geschaffen haben. Und die sich wunderbar ergänzen. Zuerst also Schläpfers „Diabelli-Variationen“ (zwar fabelhaft differenziert eingespielt von Piotr Anderszewski – trotzdem hätte ich sie lieber live gehört) und dann John Adams' „Fearful Symmetries“ (ebenfalls vom Band, wie bei diesem Stück ja üblich – und jedenfalls um Klassen überlegen der Choreografie von Peter Martins).

Man kann Schläpfer ja nur bestaunen, sich auf dieses Gipfelwerk der abendländischen Musik einzulassen – 33 Variationen, siebzig Minuten lang! Aber er gehört natürlich seit seiner „Kunst der Fuge“ zu den Gipfelstürmern, ist sozusagen ein Reinhold Messner des Balletts. And what next? Die Goldberg-Variationen – oder vielleicht Beethovens Neunte in einer Bearbeitung für Klavier einhändig? Es ist ein Ballett aus lauter Shortcuts – ganz in der Tradition van Manens, lauter Mini-Stories und Minidramen, deren Inhalt man nicht nacherzählen kann, die aber gleichwohl die Fantasie des Zuschauers stimulieren. (So meine ich, in Jörg Weinöhl einen reinkarnierten Beethoven gesehen zu haben, inklusive seinem Tod, über den dann seine Muse sein kompositorisches Vermächtnis in die Luft schreibt).

Ganz und gar nicht van-Manen-inspiriert sind allerdings die scheußlichen Tattoo-Kostüme von Marie Thérèse Jossen (wenn sich Schläpfer doch bloß von dieser geschmacklosen Kostümdesignerin trennen könnte). Wieder bin ich froh, dass dies ein Journal und keine Kritik ist – denn eine Kritik über dieses so ausgesprochen musikträchtige und einfallsreiche Ballett zu schreiben, würde die Länge von fünf kjs erfordern. Lebte ich in Mainz, würde ich sofort noch einmal in diese „Diabelli-Variationen“ gehen, nicht zuletzt der so fabelhaft individuell beschäftigten Tänzer wegen (kein Vergleich übrigens mit David Bintleys seinerzeit für das Stuttgarter Ballett choreografierten läppischen Diabelli-Variationen).

Noch direkter schließen Christes „Fearful Symmetries“ an van Manen an – auch in der simplen Ausstattung (glücklicherweise nicht von der Dame Jossen, sondern von Thomas Rupert und Annegien Sneep), sowie in den Farbkontrasten der Eierbecher-Hocker und den linearen Formationen der Choreografie mit den immer wieder neu überraschenden Vorhang-Cuts. Es ist ein Ballett, das den Tänzern richtig Spaß macht – und dem Publikum nicht minder! Wie ein aufgezogenes und makellos abschnurrendes Spielwerk. Der nächste Holland-Import fürs Stuttgarter Ballett? Ich hätte jedenfalls nichts dagegen!

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