Die Musik sehen, den Tanz hören

Colleen Neary über das Einstudieren von Balanchine-Balletten

Berlin, 23/04/2006

Die ehemalige Balanchine-Tänzerin Colleen Neary, die heute dessen Ballette überall auf der Welt einstudiert, hielt auf dem Tanzkongress einen sehr persönlichen und mitreißenden Vortrag, der durch die Tänzer Corinne Verdeil und Rainer Krenstetter vom Staatsballett Berlin auf ideale Weise ergänzt wurde. Was in anderen Voträgen bereits auf theoretischer Ebene problematisiert worden war, das wird bei Neary anschauliche Praxis: Sie schreibt durch ihre Arbeit, durch ihren Kongressbeitrag und die von ihre übermittelten Anekdoten Tanzgeschichte(n). Als personifiziertes Balanchine-Archiv fügt sie sich perfekt in das Themenfeld „Tanz und Gedächtnis“, das auf dem Tanzkongress mit Fragen der Schreibung von Tanzgeschichte(n), der Rekonstruktion von Choreografien und dem Körpergedächtnis prominent vertreten ist. Balanchine ist Geschichte, aber sein Geist lebt und soll weiterleben. Neary, für die Balanchine seit ihrem achten Lebensjahr ein Teil des Lebens geworden ist, hat eine klare mission: „to keep Balanchine's spirit alive“.

Sie erzählt auf lebendige Weise über ihre Arbeit mit William Forsythe, der bei den Proben zu „N.N.N.N.“ am Vortag geäußert habe: „I love Balanchine. He was my inspiration.“ Maurice Béjart, der ebenfalls betont, dass er von Balanchine inspiriert wurde, bat Colleen Neary, seinen Tänzern in Lausanne Balanchine-Training zu geben. Sie berichtet über Balanchines Zusammenarbeit mit Chagall, Picasso und vor allem mit Strawinsky. Noch zwei Jahre nach Strawinskys Tod kam Mr. B. morgens ins Studio und sagte den Tänzern, dass er am Vortag mit Strawinsky gesprochen habe. Zu diesen Anekdoten gehört auch die von einer Russlandtournee, auf der der Choreograf den Tänzern schilderte, wie schlecht Strawinsky Wodka vertragen habe, um diese davon abzuhalten, selbst zu viel davon zu trinken.

Es sind Streiflichter auf die tägliche Arbeit mit Balanchine, der ein sehr strenger, aber doch humorvoller Ballettmeister war, der immer genau wusste, was er wollte, unglaublich schnell unterrichtete und den Tänzern immer wieder sagte: „Don't think, just do“, „Don't analyze, just dance“, „Listen to the music, it will carry you through“. Der hochmusikalische Choreograf zerlegte die Musik in ihre Bestandteile und arbeitete stets mit Metronom, denn, so sagt Neary: „Die Tänzer, die Balanchine tanzen, müssen den Takt zählen können.“ Heute sind es etwa zwanzig bis dreißig Tänzer, die weltweit Balanchines Ballette unterrichten. Es ist die letzte Generation derer, die noch selbst mit ihm gearbeitet haben. Der Balanchine-Trust hat keine strikten Richtlinien, wie ein Ballett einstudiert werden muss, weshalb manche Stücke kleine Unterschiede aufweisen: „Wenn er für mich etwa in den 70er Jahren einen Schritt verändert hat, so gebe ich das bei einer Neueinstudierung so weiter. Andere Ballettmeister halten sich dagegen an das Original“, erklärt Neary.

Dennoch ist ihre große Sorge die Frage nach dem Danach. Was passiert, wenn es die Generation, die Balanchine noch selbst gekannt hat, nicht mehr gibt? Neary ist überzeugt, dass Videos von Aufführungen für die Einstudierung zwar wichtig sind, aber nicht die persönliche Beziehung ersetzen können. Für eine gewisse Kontinuität sorgen immerhin Tänzer der zweiten Generation, die am New York City Ballet sehr viel Balanchine getanzt haben, und jetzt ebenfalls seine Werke einstudieren. Beispielhaft stellte Neary verschiedene Ballette vor, die jeweils eine andere Seite von Mr. B. repräsentieren: classical, abstract, modern, lyric, neoclassical, romantic, dramatical. 

Corinne Verdeil und Rainer Krenstetter zeigten Ausschnitte aus „Apollo“, „Serenade“ und dem „Tschaikowsky Pas de Deux“. Spätestens hier wurde deutlich, dass dem neoklassischen Ballett und dem Ballett überhaupt im Rahmen dieses Tanzkongresses zu wenig Platz eingeräumt wird.

Link: www.balanchine.org

 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern