Start in die elfte Anderson-Spielzeit

Nach „Dornröschen“ mit „Beyond Ballet“ eine differierende Erfahrung

oe
Stuttgart, 05/10/2005

Sechsmal „Dornröschen“ im wechselnden Besetzungen im Großen Haus – und fast jede Vorstellung so ausverkauft, dass Interessenten an der Abendkasse abgewiesen werden mussten. Ich war nicht da, aber meine Spione haben mir von totaler Publikumsbegeisterung berichtet. Und nun also die erste von zwei Vorstellungen mit dem „Beyond Ballet“-Programm, das vor gut einem halben Jahr Premiere hatte, im Kleinen Haus. Die Besucherreihen doch ziemlich aufgelichtet – ich schätze, dass der Zuschauerraum etwa zu zwei Dritteln gefüllt war. Nicht schlecht – und die meisten unserer Opernballettkompanien wären vermutlich froh, wenn sie mit einem derartigen Dreiteiler, bestehend aus lauter hausgemachten Uraufführungen, eine solche Auslastung erzielten – aber für Stuttgart doch ein wenig enttäuschend, erinnern wir uns, wie die Ballettfans den „Dutch Dance“-Abend mit den holländischen Choreografen im gleichen Haus geradezu gestürmt haben.

Und dann war dies ja die erste Vorstellung mit einem Stück von Marco Goecke – nach seiner Ernennung zum Hauschoreografen (immerhin: nach Christian Spuck ein zweiter „Residenter“, wo Kompanien wie etwa München, Dresden und Leipzig nicht mal mit einem einzigen aufwarten können). Da hatte ich eigentlich mit einer Extraportion Neugierde gerechnet (wie bei mir selbst). Hat offenbar nicht sollen sein! Gleichwohl: einhellige, sogar ziemlich langanhaltende Zustimmung für alle drei Stücke, die die Tänzer auch alle weidlich verdient hatten. Es ist ja doch jedes Mal wieder eine Freude, zu sehen, mit welch einem Enthusiasmus sie sich auch den ungewohntesten Herausforderungen stellen. Selbst in den Gebirgsklettereien von Matjash Mrozewskis ziemlich überfrachtetem „Avatar“, auf dessen Inhalt wohl niemand käme, wenn er nicht das Programmheft gelesen hätte.

Immerhin konnte man hier die kühle Eleganz von Sue Jin Kang und Jiri Jelinek goutieren, die mit den echsenhaften Motionen ihrer Kollegen kontrastierten. Im Gegensatz dazu wirkte Marc Spradlings „melodious gimmick to keep the boys in line“ den Stuttgarter Spezies geradezu auf ihr spezielles Tanztemperament choreografiert – aus dem von Bridget Breiner und Evan McKie schnittig und formvollendet zelebrierten Lento explodiert es zu den Schlagzeug-Kanonaden der Percussionisten von der Musikhochschule schrapnellartig in den Raum, den es mit einer aus allen Nähten berstenden Energie auflädt.

Und dann also Goecke mit dem Coup seiner aberhunderter von Luftballons, die ihre eigene Choreografie improvisieren, während sich die Tänzer, meist rücklings, wie Zitteraale den Weg durch ihr Labyrinth bahnen. „Sweet Sweet Sweet“ – na ja! Nicht mehr ganz so amüsant wie bei der ersten Überraschungsbegegnung am Premierenabend – und viel zu lang. Und für einen musiksensiblen Freund des Balletts eine ziemliche Zumutung mit ihrem tibetanischen Fortissimo-Geheule (bei dem ich mir immer wünschte, dass sich die Vokalisten beim Atemholen sozusagen an ihrem eigenen Atem verschlucken möchten). Trotzdem: was dem alles eingefallen ist mit seinen amphibienhaften Bewegungen – und so viel Rücken war nie! Wenn der frontal ebenso vielgestaltig choreografiert, stehen uns die ungewohntesten Expeditionen bevor!

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