Noch nicht auf Hochglanz poliert

Wiederaufnahme von „Giselle“ in Stuttgart

Stuttgart, 04/02/2004

Die putzigen Knusperhäuschen des ersten Akts könnte man sicher ertragen, wäre wenigstens der zweite Akt jener Inbegriff des romantischen Balletts, würde er den Reigen der körperlosen Feenwesen auf eine mystisch-nachtblaue Waldlichtung hinzaubern. Aber die Stuttgarter „Giselle“-Inszenierung von Ballettchef Reid Anderson und Ballettmeisterin Valentina Savina ist eine allzu brave, biedere Version, deren weißer Akt seltsam eng, erdenschwer und viel zu real wirkt – vielleicht würde eine andere Beleuchtung schon helfen. Zur Wiederaufnahme war die 1999 erstmals gezeigte Produktion noch nicht ganz auf Hochglanz poliert – am ehesten noch beim Corps de ballet. Bei den Pantomimen im ersten Akt wird immer wieder das entscheidende Quäntchen übertrieben – wenn Giselle wahnsinnig wird und Albrecht wie Hilarion (Ibrahim Önal) über ihrer Leiche verzweifeln, da waren wir fast im Stummfilm der zwanziger Jahre.

Worauf es bei „Giselle“ ankommt, wissen die Russen im Stuttgarter Ballett: auf den Stil. Elena Tentschikowa bewies es als Wili-Königin Myrtha, die schicksalsergeben und mit tödlichem Sendungsbewusstsein ihre unbarmherzigen Kreise zog, Alexander Zaitsev mit bombensicher gestandenen Sprüngen und Drehungen im Bauern-Pas-de-deux. Etwas zu stürmisch für feine Stilistik begann Jason Reilly. Er kann offensichtlich das feige Verhalten von Herzog Albrecht im ersten Akt nicht so ganz nachempfinden (oder es hat ihm niemand vermittelt). Der junge Wilde hat in „Endstation Sehnsucht“ Luft von anderen Planeten geschnuppert und ist im Augenblick über den verinnerlichten, fein ziselierenden Danseur noble hinaus, den es für „Giselle“ bräuchte – was schade ist, denn eigentlich zeigt er im zweiten Akt, dass er auch das kann. Bei Reilly erkennt man, wenn etwas nicht ganz hinhaut, keine Defizite, sondern sieht immer Möglichkeiten; es fehlt ihm einzig an Zeit, an Erfahrung und Entwicklung. Seine körperlichen und technischen Möglichkeiten sind exzellent, sein Schauspiel entwickelt sich von innen und aus der Musik heraus, er hat die Schnelligkeit fürs Moderne und lässt hier, wenigstens im zweiten Akt, sogar das Talent zum noblen, stilbewussten Prinzen aufschimmern. Es ist alles da und er könnte alles tanzen – wo es einmal hingeht, weiß der junge Kanadier im Augenblick selbst noch nicht. Sue Jin Kang hatte damals „Giselle“ nicht getanzt, weil sie kurz vor der Premiere einen Ermüdungsbruch erlitten hatte und lange pausieren musste. Vielleicht kommt dieses Rollendebüt nun einfach zu spät in ihrer Karriere – Kang ist eine dramatische Ballerina und ihre Stärke sind die großen tragischen Rollen, die reine Technik war es nie. Genau darauf kommt es aber bei „Giselle“ an – nicht auf eine spektakuläre, schnelle Virtuosität, sondern auf Leichtigkeit, Ruhe und Balance, auf all die schwebenden Merkmale des Feenhaften, auf die ätherischen Port de bras, dieses Kaum-den-Boden-Berühren des romantischen Balletts. Kang trifft auch im ersten Akt den Kern der Rolle nicht, das scheue, zarte Mädchen, das keine Koketterie kennt, sondern mit der anrührenden Naivität eines Kindes auf Albrechts Zuneigung reagiert. Statt der natürlichen Grazie, die das Geheimnis einer großen Giselle ist, sahen wir die Klischees des romantischen Balletts, und die zarte Liebesgeschichte war einfach zu banal.

Kommentare

Noch keine Beiträge