Der Cyborg des britischen Tanzes

Wayne McGregor choreografiert in Stuttgart

Stuttgart, 03/06/2003

Als typisch englischen Tanzschöpfer kann man ihn wahrlich nicht bezeichnen – die britische Ballett-Tradition von Ashton und MacMillan setzt sich eher in den gediegenen Choreografien eines David Bintley oder beim klassisch orientierten Christopher Wheeldon fort. Obwohl ihm immer wieder mal der Eklektizismus seiner Bewegungssprache zum Vorwurf gemacht wird, erinnern die Stücke des 33-jährigen Wayne McGregor seine Kritiker wahlweise an Insekten, Cyber-Krieger oder Roboter mit Gummigelenken – er selbst, als bester Interpret seiner Choreografien gerühmt, wurde von Englands Starkritiker Clement Crisp als „Nosferatu on acid“ tituliert.

Der Londoner Choreograf, der in Stuttgart zum ersten Mal ein Stück mit einer deutschen Ballettkompanie erarbeitet, lässt sich von der Virtual Reality inspirieren, er experimentiert mit computergenerierten Videoprojektionen und virtuellen Tänzern. Seine Werke tragen Namen wie „Cyborg“, „Neurotransmission“ oder „digit01“. In der Londoner Tanz-Szene reiht der schlaksig-spillerige, riesengroße Brite mit der Kojak-Frisur seit 1992 Erfolg an Erfolg, nicht nur mit seiner eigenen, modernen Truppe Random Dance, sondern seit ein paar Jahren auch in der Zusammenarbeit mit klassischen Tänzern. McGregors technologie-orientierten Stücke locken mit ihren Multimedia- und Hightech-Bezügen genau das junge Publikum ins Theater, das alle so gerne hätten. Das klassische Ballett betrachtet er, seit er in der Zusammenarbeit dessen Interpreten kennen gelernt hat, nicht mehr als etwas, was man abschaffen sollte, sondern er empfindet das Bewegungs-Vokabular als positive Inspiration und neue Herausforderung.

Ende der siebziger Jahre war der kleine Wayne derart von „Grease“ und John Travolta beeindruckt, dass er unbedingt tanzen wollte – zunächst lernte er Standardtänze und Steppen, später studierte er in Leeds und an der José Limon School in New York moderne Choreografie. Bereits ein Jahr nach Ende seiner Studien gründete er 1992 die Random Dance Company – er fühlte sich keiner Richtung zugehörig, war von keinem Stil richtig begeistert, sondern wollte seine eigenen Ideen ausprobieren. Durch das englische Subventionssystem war eine anfangs zwar spärliche, aber kontinuierliche Unterstützung seiner Projekte gewährleistet: „Ich hatte immer unabhängiges Geld und war nie auf Aufträge angewiesen“.

Im Juli 2001 wurde Random Dance zur Resident Company im Londoner Sadler‘s Wells Theater (und nicht die ältere, traditionsreichere Modern-Kompanie Rambert: „sie wollten etwas Aufgeregteres...“). Damit ist der einstige Off-Choreograf McGregor sozusagen etabliert, aber die neuen Ideen gehen ihm noch längst nicht aus. Zu seinen Arbeitspartnern gehören Avantgarde-Musiker wie der „techno-data-pirate“ und DJ Scanner, Mick Jones von der Punkband „The Clash“ oder Video-Künstler wie Ravi Deepres. Wayne McGregor war schon immer von Computern fasziniert. Nicht nur bezieht er digitale Video- und Projektionstechniken ständig in seine Arbeit ein, er lässt sich zu seinen Choreografien durch virtuelle Tänzer inspirieren. Ähnlich wie Altmeister Merce Cunningham entwirft der Brite Choreografien und Bewegungen am Computer. Seine Tanz-Software heißt Poser und unterscheidet sich von Cunninghams Programm LifeForms dadurch, dass McGregor vor allem am einzelnen Körper neue Bewegungen ausprobiert, während Cunningham eine ganze Bibliothek von Bewegungen abrufbereit gespeichert hat und den Computer dazu verwendet, mehrere Tänzer im Raum anzuordnen.

Eine von McGregors neuesten Ideen ist die der „remote location stages“, also weit voneinander entfernter Bühnen, auf denen gleichzeitig dasselbe Stück getanzt wird, das dann per Breitband-Technik des „Random“-Sponsors Ericsson jeweils an den anderen Ort übertragen wird. „Phase Space“ zum Beispiel vereinte per Einblendung virtuelle Tänzer des Göteburg-Balletts mit echten Tänzern von Random Dance in London.

McGregors Arbeit mit klassischen Tänzern begann auf Initiative der damaligen Royal-Ballet-Solistin Viviana Durante. Seitdem hat er auch mit mehreren anderen klassischen Kompanien gearbeitet, zuletzt sogar zwei Wochen lang mit dem Kirov, wo er im nächsten Jahr ein Projekt betreuen soll. Die Sprache des klassischen Balletts kennt er nicht, und das ist ihm ganz recht: er will den Bewegungen keine fertigen Namen geben, weil er nicht am fertigen Produkt interessiert ist, sondern am Weg dahin. Der bekennende Workaholic arbeitet sehr schnell – er choreografiert nicht Abläufe, sondern entwickelt mit seinen Tänzern erst einmal Material, das heißt eine für das im Entstehen begriffene Stück spezifische Bewegungsart. Erst gegen Ende der Arbeitsphase setzt sich das Stück dann wie ein Puzzle zusammen.

In Stuttgart, wo Ballettchef Reid Anderson ein wenig erstaunt dreinschaut, wen er da bloß auf seine Truppe losgelassen hat, erarbeitete McGregor mit 24 Tänzern ein Stück zu Minimal Music des Amerikaners Michael Gordon. Der Titel „Nautilus“, wahlweise nach der gewundenen Nautilus-Muschel, deren geometrisches Muster McGregor inspiriert hat, oder nach Jules Vernes fiktivem U-Boot, soll nicht nur eine Unterwasser-Atmosphäre suggerieren, sondern vor allem das Gefühl, „dass ständig etwas unter der Oberfläche ist, was man nicht sieht“.

Informationen unter www.randomdance.org & www.stuttgart-ballet.de

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