Ein Stück über Männer

Ein Gespräch mit dem Stuttgarter Choreografen Christian Spuck

Stuttgart, 29/11/2003

Am 5. Dezember hat in Stuttgart „Lulu“ Premiere, das erste Handlungsballett von Christian Spuck und auch sein erstes abendfüllendes Ballett. Spuck begann 1996 in Stuttgart zu choreografieren, seit 2001 ist er hier Hauschoreograf. Für Stuttgart schuf er Ballette wie „dos amores“, „das siebte blau“, „Le Grand Pas de deux, „Carlotta's Portrait“, „Songs“ und „nocturne“. Werke von ihm sind auch im Aalto-Theater Essen, beim italienischen Aterballetto, in der Berliner Staatsoper und beim ABT in New York im Repertoire.
 

tanznetz: Wie schwer lastet der Erwartungsdruck auf Ihnen?

Christian Spuck: Sehr schwer. Es ist ein extremer Druck, zum ersten Mal eine abendfüllende Produktion zu machen: die Verantwortung gegenüber den Tänzern, gegenüber dem Haus – das waren schon einige schlaflose Nächte.

tanznetz: Wie entstand die Idee zu „Lulu“? Kam sie von Ihnen oder von Reid Anderson?

Christian Spuck: Die Idee kam von mir, nach langem Suchen. Die Themen aus der Literatur, die sich spontan für Ballett eignen, sind eigentlich alle schon verarbeitet worden. Auch „Lulu“ ist schon bearbeitet worden; es hat sicherlich mit dem Thema zu tun, dass diese Ballette alle nicht sehr berühmt geworden sind... „Lulu“ ist nicht einfach. In den meisten klassischen Handlungsballetten wie „Romeo und Julia“ funktioniert die Identifikation des Publikums zu einer Hauptfigur sehr einfach, da hat man sofort einen Bezug. Anders bei „Lulu“: da gibt es Momente, wo man Lulu als Zuschauer wirklich ablehnt. Dadurch entsteht eine große Diskrepanz, deshalb bleibt dieses Stück immer irgendwie in der Ferne. Man schaut es immer von außen an, man kann sich nie emotional ganz darauf einlassen, weil einfach Extremsituationen von Menschlichkeit ausgelotet werden.

tanznetz: Haben Sie Wedekinds Urfassung der beiden Tragödien aus literarischen Gründen als Vorlage gewählt, oder weil es einfach die komprimiertere Version ist?

Christian Spuck: Aus literarischen Gründen. Mir hat die Lulu-Figur in der Urfassung mehr gefallen als in der späteren Fassung. Die Frage ist natürlich, und das macht auch einen Teil des Drucks aus: wenn ich mich an so einen bekannten Stoff heranwage, der in den 80er Jahren auf der Schauspielbühne schon so intensiv abgehandelt wurde – warum das nochmal wiederbringen? Es muss einfach sichtbar sein, dass ich einen anderen Zugang finde als den bereits bekannten.

tanznetz: Sie setzen also voraus, dass eine Meinung zu dem Stück bereits besteht? Dass das Stück bereits bekannt ist?

Christian Spuck: Jeder weiß sofort, wer Lulu ist, jeder kann sich ein Bild machen. Den Inhalt des Stücks kennen die wenigsten, aber jeder hat das Klischee im Kopf: das Männer mordende Monster, die Femme fatale, die über Leichen geht. Ich bin zu einem ganz anderen Ergebnis gekommen. Ich bin der Meinung, dass „Lulu“ kein Stück über eine Frau ist, sondern ein Stück über Männer. Die Männer bringen sich gegenseitig um, weil sie alle etwas auf dieses kleine Wesen projizieren – und wenn das nicht mehr funktioniert, gehen sie kaputt. Es ist nicht die Schuld von Lulu. Ich widerspreche, dass Lulu eine Femme fatale ist. Für mich ist sie ein Luftwesen, deswegen heißt der erste Teil der zweiten Fassung von Wedekinds „Lulu“ auch „Erdgeist“ – sie kommt aus dem Nichts, steigt durch die Männer gesellschaftlich auf und verschwindet dann im totalen sozialen Abgrund, wo nichts ist. Sie ist nur eine Leinwand, und alle projizieren darauf. Was sie eigentlich sucht, ist Anerkennung und Liebe. Das bekommt sie nicht, weil alle immer nur etwas anderes in ihr sehen. In den 80er Jahren (und auch jetzt noch) herrschte der Gedanke vor, die Extremsituationen in „Lulu“ auch so darzustellen, also die Charaktere in extremen oder in karikierenden Bildern ganz groß herauszustellen, die Abgründe zu zeigen. Die Urfassung ist aber in der so genannten Vaudeville-Technik geschrieben, in so einer Art Klappen-Theater: einmal passiert hier was, dann passiert plötzlich dort was, dann geht irgendwo anders eine Klappe auf. Also wurde dieses extreme Drama, diese Monstertragödie eigentlich mit Mitteln von Leichtigkeit hergestellt, mit Mitteln der Komödie und eigentlich als eine Fortsetzung der Operette. Das Drama wurde leicht verpackt. Es war mir ganz wichtig, durch meine Musikauswahl eine gewisse Leichtigkeit auf die Bühne zu bringen, um diesen Abgrund darunter irgendwie sichtbar zu machen. Ich habe mich bewusst dagegen entschieden, nur mit Alban Berg oder der zweiten Wiener Schule zu arbeiten. Diese Komponisten sind natürlich vertreten und verankern das Ganze auch in seiner Zeit, aber ich benutze vor allem Musik von Schostakowitsch – ihre Leichtigkeit und Ironie spinnt diesen Operettengedanken ein bisschen fort. Sie ergibt für mich eine schöne Ebene, dieses Entsetzliche – der letzte Akt etwa ist ein einziges Morden – so darzustellen, dass es einem nahe geht, oder dass es ins Groteske kippt, aber dass es nicht zu plakativ wird.

tanznetz: Verwenden Sie auch Musik aus Alban Bergs Oper?

Christian Spuck: Ich habe mich bewusst gegen Musik mit Stimme entschieden. Bei Alban Berg sind sämtliche Auseinandersetzungen mit dem Lulu-Thema mit Stimme vertont, bis auf zwei Teile aus der Lulu-Suite. Dann habe ich zwei Stücke seines Lehrers Arnold Schönberg verwendet, die restliche Musik ist von Schostakowitsch – neben einem relativ bekannten Walzer stammt alles aus alten Schwarzweiß-Filmen der vierziger, fünfziger Jahre, die ziemlich unbekannt sind. Ich habe lange nach der Musik gesucht – wenn ich so ein großes Werk mache, kann ich nicht nur Musik spielen, die sowieso jeder kennt. Mir war auch wichtig, nicht einfach eine Musik-Collage zu basteln, sondern in einem bestimmen Stil zu bleiben.

tanznetz: Gibt es Text?

Christian Spuck: Es wird sehr wahrscheinlich einige Texteinwürfe geben, weil das Ballett doch sehr komprimiert geworden ist – das ganze Thema wird in zwei Stunden abgehandelt. Ich hatte immer bestimmte Texteinwürfe im Hinterkopf, die ich gerne drin hätte, daran arbeiten wir gerade.

tanznetz: Wie haben Sie das Stück so dicht komprimiert? Wurden Nebenfiguren gestrichen?

Christian Spuck: Wir haben reduziert, um diese relativ komplizierte Geschichte klarzumachen, aber es sind alle wichtigen Figuren da. Ich gehe ein bisschen später in die Geschichte rein und lasse den ersten Mord an Dr. Goll weg, der auch im Drama relativ kurz ist.

tanznetz: Versteht man das Ballett, ohne das Stück zu kennen, denn es ist doch eigentlich ein recht kompliziertes Theaterstück?

Christian Spuck: Das Stück ist kompliziert. Nach langen Gesprächen hat Reid Anderson mir ganz klar den Auftrag erteilt: die Geschichte muss verständlich sein. Und das ist das Experiment dabei! Wenn man sich umschaut, was heutzutage sonst in der zeitgenössischen Tanzszene stattfindet, dann würde man vielleicht eher eine Arbeit über Lulu erwarten, inspiriert von Lulu, man würde vielleicht abstrakten Tanz erwarten und müsste sich sozusagen selbst durcharbeiten - was mich auch gereizt hätte. Aber ich will erst lernen, wirklich Geschichten zu erzählen, mit Bewegung, mit Dramaturgie, und dann geht es vielleicht irgendwann in die andere Richtung...

tanznetz: Wie erzählt man heutzutage im Tanz, wie vermittelt man Handlung? Mit Pantomime, im Cranko-Stil, oder hat sich das Erzählen anders weiterentwickelt?

Christian Spuck: Cranko ist sicherlich irgendwie in allen meinen Adern vorhanden, weil ich hier groß geworden bin, dem werde ich mich nicht entziehen können. Pantomime mag ich auf der Bühne nicht, das versuche ich zu vermeiden. Man erzählt durch Konstellation – durch die Konstellation von Figuren, in welchem Moment sie sich begegnen und was sie miteinander machen. Um die Möglichkeiten des Tanzes zu nutzen und sozusagen auch mal einen unterhaltsamen Wert reinzubekommen, habe ich zwei Momente eingebaut, die es im Theaterstück nicht gibt – zum Beispiel eine Vaudeville-Szene kurz bevor Dr. Schön erschossen wird. Aber sonst wird nur durch Choreografie erzählt.

tanznetz: Hat die Auswahl von „Lulu“ auch damit zu tun, dass hier mit Alicia Amatriain und Bridget Breiner ideale Besetzungen für die zwei weiblichen Hauptrollen haben?

Christian Spuck: Das war mit ein Grund. Die Besetzung war ganz klar – immer wenn ich ein Stück auswähle, denke ich daran, wie ich das besetzen könnte. In dem Moment, wo die Tänzerin auf der Bühne steht und sie das richtige Kostüme hat, das richtige Licht und die richtige Musik, da versteht der Zuschauer schon den ersten Teil des Charakters. Alicia Amatriain bietet sich von ihren tänzerischen Möglichkeiten und von ihrem Charakter einfach an; sie ist meist sehr spontan und legt ihre künstlerische Kraft aus dem Moment heraus frei. Das gibt dem Charakter von Lulu schon mal eine bestimmte Färbung. Bridget Breiner arbeitet sehr intellektuell und geht sehr bewusst mit ihrer Rolle um, was natürlich dem Charakter der Geschwitz viel näher ist. Bei den Männern war es ganz genau so, ich wusste genau wen ich haben wollte.

tanznetz: Das Stuttgarter Ballett lebt geradezu von seiner Tradition an Handlungsballetten, die eigens für diese Kompanie gemacht wurden. Sehen Sie sich in einer Linie mit dieser Tradition, arbeiten Sie bewusst dagegen, oder machen Sie einfach Ihr Stück, ohne das alles zu beachten?

Christian Spuck: Wenn mich diese Tradition nicht interessieren würde, wäre ich nicht so lange Tänzer hier gewesen. Sie interessiert mich sehr und ist auch sicher unbewusst in die Arbeit mit eingeflossen. Hier in Stuttgart ist wirklich der Durst nach Geschichten da. Vielleicht will sich der Zuschauer einfach identifizieren. Die Leute wollen eigentlich weiter „Romeo“ und „Onegin“ sehen, aber sie wollen es neu haben, anders verpackt. Ich bin da natürlich ganz oft in einen Konflikt geraten und dachte am Anfang: ich muss ich mir treu bleiben und in bestimmen Momenten irgendwie doch abstrahieren, aber „Lulu“ ist wirklich ein echtes Handlungsballett geworden. Innerlich war einfach das meine Aufgabenstellung: ich will, dass der Zuschauer die Geschichte versteht, auch wenn sie kompliziert ist.

tanznetz: Stimmt es, dass Sie nach Berlin gezogen sind? Ist es ein Dilemma für Sie, dass Stuttgart zwar eine Balletthochburg ist, aber keine echte Metropole, aus der Inspiration kommt?

Christian Spuck: Ich habe viel Zeit in Berlin verbracht, weil ich da auch gearbeitet habe. Mir gefällt die Stadt und ich habe gemerkt, dass ich da einen anderen Input bekomme. Auch wenn in der Ballettwelt dort immer noch viel ungeklärt ist. In Berlin hat man Hunger nach einem Ereignis im Theater, nicht nach dem Repertoireprogramm. Wenn man viel arbeitet, ist es sicher besser, in einer Stadt wie Stuttgart zu leben, weil Berlin doch die Tendenz hat, einen abzulenken, weil so viel passiert. Ich glaube nicht, dass Stuttgart eine Stadt ist, die unheimlich inspirierend ist. Ich fühl mich hier wohl, man kann hier gut leben, und wenn ich hier arbeite, bin ich glücklich. Ich habe hier in Reid Anderson jemanden gefunden, den ich ein zweites Mal im Leben nicht finden werde, der mir so viel Vertrauen entgegenbringt, so viele Möglichkeiten gibt. Er ist auch ein sehr guter Kritiker meiner Arbeiten – er war bei fast allen Proben dabei. Jeden Abend findet dann in seinem Büro Generalkritik statt, und das alles in dem Interesse, dass das Werk in sich funktioniert und dass ich künstlerisch weiterkomme.
 

Aufführungsdaten und weitere Informationen zu Christian Spuck und zu „Lulu“ unter www.stuttgart-ballet.de

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