Wiederaufnahme von David Bintleys „Edward II.“ beim Stuttgarter Ballett

oe
Stuttgart, 18/07/2002

Mit einem ganz und gar unglaublichen Flair für Timing hat die Direktion des Stuttgarter Balletts einen Tag nach der Verkündung des Bundesverfassungsgerichts seines Urteils über die sogenannte Homo-Ehe die Wiederaufnahme von David Bintleys „Edward II.“ herausgebracht – sieben Jahre nach der Stuttgarter Uraufführung, die Marcia Haydée als eine der letzten Taten ihres Regimes angeregt hatte. Und die erwies sich jetzt bei ihrer Premiere als ein Publikumsmagnet allerersten Ranges – alle sieben Vorstellungen, in der sich drei verschiedene Besetzungen vorstellen werden, sind ausverkauft – trotz der angeblichen Publikumsmüdigkeit am Ende einer langen Saison. Von einer Ermüdung der Kompanie konnte schon gar nicht die Rede sein, die tanzte, dass die Fetzen flogen. Entsprechend die Ovationen am Schluss – mit ein oder zwei lautstark sich ins Zeug legenden Oppositionellen (ob die wohl der Stoiber-Fraktion des Stuttgarter Publikums angehörten?).

Bintleys „Edward II.“ ist ein Ballett in der Cranko-Nachfolge, das die dramatisch-theatralische Power, durch die sich das Stuttgarter Ballett vor allen anderen Kompanien auszeichnet, voll ausreizt – ein Ballet noir, das mit einer bohrenden finsteren Gewalt über die Bühne tobt: die Stuttgarter Tänzer als Hells Angels des 14. Jahrhunderts! Wie weit hier persönliche Identifikation insbesondere der Männer mit ihren Rollen vorliegt, bleibt jedermanns persönlicher Spekulation überlassen, aber es kann ja wohl nicht abgestritten werden, dass die in diesem Ballett thematisierte Homosexualität eins der zentralen Themen der Tänzerschaft insgesamt ist.

Bintley hat süperbe Partien insbesondere für die Männer in diesem Ballett choreografiert, und zwar sowohl für die Solisten wie für das Corps – wobei ich mir allerdings gewünscht hätte, dass er bei der Wiedereinstudierung beherzter gekürzt und die herumkaspernde Gauklertruppe (ein typischer Wurmfortsatz vieler abendfüllender Ballette) und besonders den unsäglichen Sensenmann ganz gestrichen hätte. Ernstlich beeinträchtigt das den dramatischen Elan dieses Balletts nicht. Von Davor Krnjak und dem Staatsorchester musikalisch zu einem zweieinhalbstündigen Flächenbrand entfacht, stampfte das Ballett wie eine Dampfwalze über die Bühne.

Nur ein einziger Solist ist aus der Uraufführungsequipe übrig geblieben – ausgerechnet Rolando d‘Alesio als Sensenmann (nichts gegen ihn, doch alles gegen seine Rolle, die in Bintleys Version nicht entfernt mit dem Sensenmann in Kurt Joossens „Grünem Tisch“ konkurrieren kann). Die Stuttgarter Jungs und Männer haben als Soldaten und Barone seit der Premiere von 1995 noch beträchtlich an Kraft und Energie zugelegt – in dieser Beziehung kann ihnen keiner ihrer Kollegen in Hamburg, München, Berlin, Leipzig oder Wien das Wasser reichen. Das ist eben das Spezifikum der Stuttgarter, dass sie mit einem bravourösen Elan tanzen, mit dem sie unweigerlich das Publikum infizieren. Und genau das ist es, was das Ins-Ballett-Gehen in Stuttgart jedes Mal – und selbst in den nicht so gelungenen Einstudierungen wie den abgestanden-antiquierten Klassiker-Produktionen à la „Les Sylphides“, „Giselle“, „Schwanensee“ und „Don Quixote“ zu einem so auf- und anregenden Abenteuer macht.

In der Premiere tanzten Roland Vogel den Edward und Ivan Gil Ortega seinen Günstling Gaveston. Vogel bleibt am Anfang und noch eine ganze Weile ziemlich anonym, ein ordentlicher und gewissenhafter Tänzer, ohne besonderes individuelles Profil, reift dann allerdings im zweiten Akt, vom Schicksal geschlagen und aufs Tiefste gedemütigt als Schmerzensmann in eine tragische Dimension, die uns als Publikum zu seinem Mitleidenden macht.

Ortega bringt alles für den Sonnyboy mit: seine einnehmende Erscheinung, seine tänzerische Eleganz mit den hohen und weiten Sprüngen, seine generelle jugendlich-optimistische Ausstrahlung – allerdings erscheint seine Darstellung allzu uniform auf sein Cheesecake-Lächeln reduziert. Als Charakter ist ihrer beider entschiedenster Widersacher Mortimer ihnen beiden überlegen: Robert Conn, der durch seine dominierende Persönlichkeitspräsenz sogar seinen Uraufführungsvorgänger vergessen lässt, und der hieß immerhin Richard Cragun. Wie bei Ortega wünschte ich mir auch von Filip Barankiewicz (Warwick) und Friedemann Vogel (Despenser), dass sie ihre Rollenporträts noch differenzierter gestalteten.

Eine Klasse für sich ist Sue Jin Kang als Edwards ungeliebte Gattin Isabella. Zart und zerbrechlich und von einem Hauch femininer Exotik umgeben, fügt sie sich anfangs gehorsam in ihre Rolle als Königin und Mutter, sozusagen in politischer Korrektheit, um sich dann zur Rächerin ihres Geschlechts aufzuschwingen und wie ein Engel der Apokalypse über die Bühne zu stürmen. Wäre sie nicht bereits liebevolle Mutter, wenn schon ihr verwehrt ist, auch liebevolle Gattin zu sein, könnte man sie für eine Schwester der Jungfrau von Orleans halten. Sie beweist hier einen dramatischen Atem, dass man sich sagt, wenn Marcia Haydée damals, 1995, als sie bereits siebenundfünfzig war, die Rolle noch hätte kreieren können, hätte sie sie wohl so wie Sue Jin Kang 2001 getanzt – will sagen: In ihr habe ich die wiederauferstandene junge Marcia Haydée gesehen!

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