Vom Logos zum Mythos

Merce Cunningham und seine Company bei DANCE 2002

München, 30/10/2002

Ist Merce Cunningham der Größte? Er hat den Tanz von den Stimmungen des Modern Dance emanzipiert. Er hat Ende der 40er-Jahre mit John Cage Zeitintervalle erarbeitet, innerhalb derer Tanz und Musik unabhängig voneinander existieren. Die in Zusammenarbeit mit Robert Rauschenberg, Jasper Johns, Andy Warhol und anderen erstrangigen Künstlern entstandenen Bühnenbild-Kostüm-Sets kommen als dritte, eigenständige Dimension dazu. Seit den 50er-Jahren hat Cunningham die Aleatorik eingesetzt, um von zufälligen, immer neuen Situationen aus die Bewegung weiter zu entwickeln. Schon seit den 70er Jahren nutzt er Video-Verfahren zum Choreografieren, und seit dem Jahre 1991 ist jedes seiner Werke am Computer mit dem Programm Life Forms choreografiert. Cunningham ist neugierig, intellektuell und radikal. Noch immer!

Jetzt zeigte die Merce Cunningham Dance Company im Staatstheater am Gärtnerplatz an zwei Abenden drei Stücke, von denen nur „Native Green“ schon beim Berliner Festival „Tanz im August“ zu sehen war. Am zweiten Abend, der mit „Suite for Five“ aus dem Jahr 1956 eingeleitet wurde, sah man einen Querschnitt aus fünf Jahrzehnten tänzerischer Entdeckungsreise. Schon in „Suite for Five“ zu John Cages „Music for Piano“ wurden Cunninghams charakteristische Qualitäten sichtbar. In der Ausstattung von Robert Rauschenberg trugen die Tänzer uni Ganzkörpertrikots in verschiedenen Farben. Nach einem Solo in Blau vor grauem Hintergrund trat – nun vor lila Background – eine Tänzerin in Gelb auf, und man sah, wie auch die Wirkung Cunninghamscher Figuren von der Ausführung des einzelnen Künstlers abhängt. Besonders bei Holley Farmer wirkten die wunderbar ruhigen, klaren Posen zwingend, die Isolations und Akzente per se faszinierend. Waren alle Tänzer auf der Bühne, kam die meisterhafte Raumaufteilung zum Tragen - und zusätzlich die Farbkomposition als solche. Einzelnen Körpern oder Gruppen wuchs in ihren Posen die Qualität von Skulpturen zu, deren Ästhetik untereinander korrespondierte. Kurze synchrone Bewegungsharmonie zweier Tänzer sprang überraschend vom ersten auf einen dritten über.

Für „RainForest“ (1968) wurde Andy Warhols Installation „Silver Clouds“ aus demselben Jahr zu einem gleißend erleuchteten, schwarzen Bühnenraum mit Helium-gefüllten Kissen auf dem Boden und über den Köpfen von drei Tänzern und drei Tänzerinnen. Die spielten zur strapaziös kratzenden „live electronic“ Musik in ihren fleischfarbenen Trikots – Jasper Johns soll die kleinen Löcher hinein gerissen haben – staksig wie Roboter und schlugen in ihren schnellen Richtungswechseln ein rasantes Tempo an. Als in David Tudors Auftragskomposition „Rainforest“ Natur-Motive durchklangen, wurde ersichtlich, dass Cunningham seine Beobachtungen zurück in abstrakte Formen transferiert. So auch Tudor. Das sehr artifizielle Ergebnis hat also lebendige Quellen. Dies wurde schon am ersten Abend bei „Native Green“ ersichtlich und ebenso bei „Pond Way“, wo all die Sprünge aus der Fünften in die Fünfte an Froschsprünge erinnerten.

Das Schlussstück „MinEvent“, aus Ausschnitten anderer Werke zusammengestellt, hatte seine Erstaufführung in München. Die Musiker der Company, Takehisa Kosugi und Christian Wolff, komponierten und spielten live. Man hörte also andere Klänge als die ursprünglich zu diesen Ausschnitten gehörenden. Im Bühnenbild und den Kostümen von Paul Kayser, Shelley Eshkar und Marc Dawnie stachen die Tänzer in verschieden kombinierten Zweiteilern in Rot, Gelb und Orange hervor, zumal im Kontrast zu den leuchtenden Farben das weiße Licht einer Computeranimation auf der schwarzen Rückwand nur schwach zuckte. Abbrechende Musikstrukturen setzten immer neue Dynamiken frei und führten zu Isolations in Wahnsinnstempo. Obwohl nichts mehr dazwischen zu passen schien, Cunningham also die höchste choreografische Komplexität und Dichte erreichte, war den Bewegungen so viel Zeit gelassen, dass sie „atmeten“. Die Tänzer bewegten sich auch in der Stille - wie stark kann Stille sein! – rhythmisch weiter und führten das mit ca. 35 Minuten längste Stück des Abends in ein grandioses Finale.

Am Ende also ein triumphales Feuerwerk! Cunningham steigert noch mit 83 Jahren den Emanzipationsgrad der Bewegung: Alle Bewegungen, das wurde deutlich, verlangen von den Tänzern höchste Virtuosität, denn Beine, Körper und Arme folgen verschiedenen Rhythmen. An nichts wird festgehalten, am wenigsten an tänzerisch bequemen Zentren, kein Ende wird angesteuert, alles ist frei in jedem Augenblick. Die Tänzer wirken dabei außergewöhnlich präsent. Der hohe Grad an innerer Konzentration lässt sie nach außen strahlen. Das Ergebnis ist eine faszinierende Ausdruckskraft, die man vielleicht als Mythos der Bewegung deuten kann.

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