ein neuer Spuck zum Auftakt des Jubiläums

oe
Stuttgart, 07/11/2001

Die erste Wiederholungsvorstellung des Premierenprogramms, mit dem das Stuttgarter Ballett am 2. November die Festivitäten anlässlich seines 40-jährigen Jubiläums einleitete, zeigte drei Ballette, sämtlich kreiert für die Kompanie: Jiří Kyliáns „Vergessenes Land“ (1981), Uwe Scholzens „Siebte Sinfonie“ (1991) und, als Uraufführung, Christian Spucks „Songs“ – Stuttgarter Ballettgeschichte im Zehn-Jahres-Rhythmus. Eine exzellente Programmzusammenstellung: Drei verschiedene choreografische Handschriften, die sich ideal ergänzen, die Tänzer in Hochform.

Die beiden Stücke von Kylián und Scholz haben inzwischen fast schon Klassikerstatus – ob auch die Spuckschen „Songs“ sich dafür qualifizieren, bleibt abzuwarten. Auf sie konzentrierte sich das Hauptinteresse. Mit ihnen scheint das Forsythesche Quasselstrippen-Virus nun endgültig das Stuttgarter Ballett befallen zu haben. Welch ein Humbug! Ein deutscher Choreograf, ein deutscher Dramaturg, eine deutsche Ballettkompanie, die für ein deutsches Ballettpublikum ein Stück zur Uraufführung bringt – basierend auf den Rilkeschen „Sonetten an Orpheus“, die von einer kanadischen Tänzerin in englischer Übersetzung rezitiert werden (und im deutschen Original als Übertitel auf den oberen Bühnenrahmen projiziert werden)...

Man versuche sich einmal vorzustellen: ein amerikanischer Choreograf (Mark Morris), der mit seiner amerikanischen Kompanie im New Yorker City Center für ein amerikanisches Ballettpublikum ein Stück kreiert, basierend auf H. W. Audens Gedicht „The Waste Land“, rezitiert in deutscher Übersetzung von einem deutschen Tänzer, mit dem amerikanischen Original projiziert als Übertitel! Absurd! Aber wir sind ja inzwischen so global verschmockt und durch die englische Titelmanie unserer Choreografen so abgestumpft, dass wir längst resigniert haben.

Spuck, der ein toll begabter Choreograf ist, ein Ästhet par excellence mit einer beglückend lebhaften Bild- und Raumfantasie, von feinster musikalischer Sensibilität, einem vielleicht nicht sonderlich variablen Vokabular aber doch grundsolider choreografischer Grammatik, muss sich hüten, dass er sich nicht in einer enigmatischen Sackgasse verrennt – wozu in diesem Ballett auch noch ein Falkner beiträgt, der mit seinem Greifvogel das ganze Stück über hinten links in der Ecke sitzt und lediglich kurz vor Schluss sein Tier diagonal über die Bühne in die Kulisse flattern lässt.

Kann man von diesem ganzen überflüssigen Brimborium und auch von dem Programmheft-Dramaturgengeschwätz sowie von den ins Mikrofon gestammelten gemeinplätzigen englischen Wortfetzen absehen, mit denen die Tänzer sich über ihre Privatprobleme auslassen, sieht man ein Ballett, das sich in einem wunderbar rein anmutenden weißen Raum (Spuck), getaucht in eine subtile Lichtregie (Hartmut Litzinger), aus anfänglichen Exercise-Studien mit dem Einsetzen der Musik (von Purcell und Händel und – durchaus entbehrlich – Roderick Vanderstaetens Noise-Collagen) in kontinuierliche Enchaînements hinübergleiten lässt, überraschend klassisch, sehr flüssig, sehr musiknah, leicht elegisch gefirnisst.

Das besticht durchaus in seiner melancholieüberschatteten Vergeblichkeit der immer wieder versuchten Annäherungen und ihrem Scheitern und bietet eine ästhetische Erfahrung von luzider Reinheit und Klarheit, der man sich umso lieber überlässt, da Spuck seine fünf beteiligten Tänzerpaare (darunter so technisch versierte und charakterstarke Solisten wie Sue Jin Kang, Bridget Breiner und Yseult Lendvai, Jason Reilly, Douglas Lee und Eric Gauthier) so durchaus individuell einzusetzen weiß, dass sie sich als Persönlichkeiten eigenen Formats profilieren können. Es könnte ohne diesen ganzen prätentiösen Schwulst ein so schönes Ballett sein! Hoffen wir, dass die Stuttgarter Ballettdirektion der weiteren Ausbreitung dieses Forsytheschen Quasselvirus energisch Einhalt gebieten wird.

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