Marianne Kruuse als Marie mit Max Midinet als Drosselmeier in „Nussknacker“

Marianne Kruuse als Marie mit Max Midinet als Drosselmeier in „Nussknacker“

Ehrlich sein mit sich selbst

Marianne Kruuse gibt die Leitung der Schule des Hamburg Ballett zum Sommer 2013 ab

Marianne Kruuse arbeitete als Pädagogin an der Ballettschule des Hamburg Ballett, dessen pädagogische Leitung und stellvertretende Direktion sie 1993 übernahm. Zum Ende der Spielzeit 2012/2013 geht sie in den Ruhestand.

Hamburg, 10/01/2013

Marianne Kruuse, geb. 1942 in Kopenhagen, hatte ihr erstes Engagement beim Skandinavischen Ballett, bevor sie 1965 zum Stuttgarter Ballett unter der Leitung von John Cranko ging. Dort begegnete sie John Neumeier, der seinerzeit ebenfalls beim Stuttgarter Ballett als Tänzer engagiert war und mit ihr seine ersten Choreografien erarbeitete. Marianne Kruuse folgte Neumeier 1970 nach Frankfurt/Main und 1973 nach Hamburg, wo sie bis 1985 als Erste Solistin tanzte. Danach arbeitete sie als Pädagogin an der Ballettschule des Hamburg Ballett, dessen Pädagogische Leitung und stellvertretende Direktion sie 1993 übernahm. Zum Ende der Spielzeit 2012/2013 geht sie in den Ruhestand und übergibt beide Positionen an Gigi Hyatt, die schon ab Januar 2013 als Pädagogin an die Ballettschule kommt.

Marianne Kruuses Repertoire als Tänzerin umfasste zahllose Rollen in großen Werken von John Cranko, Kenneth MacMillan, Peter Wright, vor allem aber von John Neumeier. Es begann mit Neumeiers erster Kreation „Haiku“ in Stuttgart und führte zu insgesamt 24 Rollen, die Neumeier für sie geschaffen hat, unter anderem Julia in „Romeo und Julia“, Marie in „Nussknacker“, Helena in „Sommernachtstraum“, um nur die wichtigsten zu nennen. In einem Brief an sie anlässlich ihrer letzten Vorstellung im Juli 1985 schrieb John Neumeier: „An diese Rollen denke ich zunächst vorrangig wohl deshalb, weil Du mit ihnen und durch sie einen neuen Frauentyp entwickelt hast. Diese Personen mussten oft auf der Bühne tanzen ‚lernen‘, sie mussten dabei für alle Zuschauer sichtbar ‚Probleme‘ haben. Das bedeutet: Die Tänzerin muss sich gleichsam bloßstellen, sie muss die vorprogrammierte Schönheit und Allüre des Ballerinen-Klischees brechen, um eine unmittelbare Menschlichkeit zu beweisen. Denn es ist gerade diese Verletzbarkeit, dieser sichtbar gewordene Übergang von Ungeschicklichkeit zur Schönheit, der die Dramaturgie dieser Rollen bestimmte. Ich wollte Menschen auf meiner Ballettbühne sehen. Deine starke innere Ausstrahlung ermöglichte es, eine Frau auf der Bühne zu erleben, die vor unseren Augen schön wird durch das, was sie ist, was sie tanzt und wie sie es tanzt, und deren Gestaltung deshalb nie ‚leer‘, routiniert oder bloß technisch brillant sein konnte.“

Tanznetz.de-Korrespondentin Annette Bopp hatte Gelegenheit, im Dezember 2012 mit Marianne Kruuse über ihre Arbeit als Ballettpädagogin und den bevorstehenden Abschied zu sprechen.

Sie werden zum Ende der Spielzeit die Pädagogische Leitung der Ballettschule des Hamburg Ballett abgeben. Wie fühlen Sie sich?

Marianne Kruuse: Ich fühle mich gut! Ich habe ja selbst entschieden, dass ich mich zurückziehe, weil es nach 40 Jahren in Hamburg – vorher hatte ich ja in Stuttgart getanzt und war mit verschiedenen Kompanien auf Tournee – Zeit dafür ist. Ich hatte vor kurzem einen runden Geburtstag. Jetzt soll noch Zeit sein für ein paar andere Sachen in meinem Leben.

Zum Beispiel?

Marianne Kruuse: (lacht) Weiter unterrichten! Ich habe verschiedene Angebote aus Amerika und Japan, als Gastlehrerin zu arbeiten. Eigentlich hatte ich nicht daran gedacht, noch weiterzumachen, ich wollte wirklich aufhören. Aber als man mich dann gefragt hat, auch in Dänemark – da denke ich jetzt schon darüber nach. Und ich möchte reisen. Ich habe in meinem Leben sehr viele Länder gesehen, aber es fehlen noch ein paar. Ich war nie in China, Afrika oder Australien. Aber ich mache keine großen Pläne - es kann ja auch sein, dass nichts daraus wird.

Sie sind mit John Neumeier nach Hamburg gekommen und haben schon davor mit ihm in Frankfurt und Stuttgart gearbeitet. Wie ist das für Sie – eine so lange gemeinsame Geschichte?

Marianne Kruuse: Es ist etwas sehr Besonderes, ein Geschenk. John hat mich schon in Stuttgart gefragt, ob ich in seiner ersten Choreografie dort tanzen möchte, das war „Haiku“. Danach kam „Separate Journeys“, im Schauspielhaus. Seither hat er mein berufliches Leben bestimmt. Er wurde mein Meister. Ich fand es vom ersten Augenblick an sehr besonders, mit ihm zusammenzuarbeiten. Auch, wie er mit seinen Tänzern probiert. Er versucht, alles aus seinen Tänzern herauszubekommen. Er kennt die Persönlichkeiten sehr gut und weiß, wie er sie in seiner Choreografie einsetzen muss, um das herauszuholen, was er sagen möchte.

War es das erste Mal, dass Sie so eng mit einem Choreografen gearbeitet haben damals?

Marianne Kruuse: Ich war ja im Stuttgarter Ballett und habe natürlich mit John Cranko gearbeitet, aber nicht so nah wie mit John Neumeier. Als Anfängerin, in Kopenhagen, habe ich im Skandinavischen Ballett mit Elsa Marianne von Rosen gearbeitet und dort auch eine Rolle kreiert. Aber damals war ich noch sehr scheu, in den Proben kam überhaupt nichts von mir. Erst als ich dann auf der Bühne stand, fühlte ich mich wie befreit und habe verstanden, was Elsa Marianne von Rosen von mir haben wollte.

Wie unterscheiden sich John Cranko und John Neumeier in ihrer Art, mit Tänzern zu arbeiten in der Kreation? Wie haben Sie das erlebt?

Marianne Kruuse: Bei Cranko kann ich das nur von der Beobachtung her vergleichen. Ich selbst habe nicht mehr so viel mit ihm gearbeitet, aber ich habe miterlebt, wie er mit Marcia Haydée, Richard Cragun, Birgit Keil und Egon Madsen gearbeitet hat, ich habe ja, neben anderen Aufgaben, die Olga in Crankos „Onegin“ getanzt. Er hat in seiner kreativen Arbeit in gewisser Weise mehr Freiheit gelassen. John Neumeier möchte etwas Bestimmtes haben, und um das zu erreichen, erklärt er sehr viel. Als Tänzer versucht man dann das, was er haben will, in Bewegung zu übersetzen. Cranko dagegen hat nicht viel erklärt. Er soll einmal gesagt haben: „Die verstehen ja sowieso, was ich will…“ Und wenn man heute die Cranko-Ballette in den alten Besetzungen anschaut und Egon sieht und Marcia und Ricky und Birgit, da kann man nur sagen: Sie haben sicher alle genau das ausgedrückt, was er wollte, und sie haben das, was sie selbst mitbrachten, noch dazugegeben. Cranko wurde sehr inspiriert von Marcia Haydée, die eine große Darstellerin war. Ich habe mir gerade die alten Videos mit ihr als Tatjana in „Onegin“ angeschaut, und es ist wunderbar, wie sie das macht. Natürlich verstehen auch die Tänzer bei John Neumeier, was er will, nicht nur durch seine Worte. Aber er will mehr.

Was ist dieses „mehr“? Wie kann man es fassen?

Marianne Kruuse: Es ist schwer zu erklären. Jeder Tänzer gibt bei einer Kreation immer das hinzu, was er selbst aus sich heraus geben kann. Es ist ja nicht so, dass man nur wie eine Marionette macht, was der Choreograf möchte. Es ist immer eine Zusammenarbeit und für den Tänzer ein Privileg, mit einem Choreografen über Wochen eine Rolle zu kreieren. Ich hatte das große Glück, mit John Neumeier insgesamt 24 Rollen zu erarbeiten. Vielleicht kann und mag John Neumeier einfach mehr erzählen oder mit Worten sagen als John Cranko, der sich vor allem auf die Intuition seiner Tänzer verließ, auf das nonverbale Miteinander bei einer Kreation.

John Cranko hat damals ja schon eine Zäsur eingeleitet im Tanz des 20. Jahrhunderts. Davor ging es weniger um Persönlichkeiten und Gefühle, sondern mehr um das akademische Abzirkeln von Figuren und Haltungen, um Pantomime, Technik. Hat John Neumeier in Frankfurt und Hamburg als Entwicklung fortgesetzt, was John Cranko in Stuttgart begonnen hat?

Marianne Kruuse: Sicher wurde John Neumeier von John Cranko in einigen Aspekten geprägt, bewusst oder unbewusst, er hat viel mitgenommen, wie ich auch von Marcia Haydée bewusst oder unbewusst viel gelernt habe. Aber er hat dann doch seinen sehr eigenen Stil entwickelt. Das beste Beispiel ist vielleicht „Romeo und Julia“ von John Neumeier im Vergleich mit John Crankos oder Kenneth MacMillans Version, die noch mit sehr viel Pantomime arbeiteten. Das wollte John Neumeier nicht mehr. Er wollte alles im Tanz ausdrücken. Er hat z. B. die Familienszene vollkommen vertanzt, die Übergabe von Julia an Paris als Pas de Quatre, oder die Szene, wenn Vater und Mutter hereinkommen und sagen: du musst Paris heiraten – sie wussten ja nicht, dass Julia gerade Besuch von Romeo hatte! Das wird bei John Neumeier alles getanzt. Er hat damit begonnen, die großen Gefühle alle in Tanz umzusetzen, auf die Pantomime völlig zu verzichten. Man muss alles über die Bewegung ausdrücken und über das eigene Fühlen, bei ihm ist man Mensch auf der Bühne.

Und dabei ist er ja sehr eigene Wege gegangen...

Marianne Kruuse: Ja, nehmen Sie nur die Eingangsszene in „Romeo und Julia“. Bei John Neumeier ist die Ballerina barfuß und halbnackt, nur mit einem Handtuch bekleidet, und sie parodiert ihre Mutter. Das hat vor ihm noch nie jemand so realistisch dargestellt. Bei John Cranko ist diese Szene auch sehr schön, aber da hat Julia eben Spitzenschuhe an. Davon wollte John Neumeier weg. Vielleicht hat er das auch in mir gesehen, dass ich das so machen konnte, diese barfüßige Julia im Bade, ich war ja seine erste Julia. Er weiß genau, wie er seine Tänzer einsetzen kann, er sieht oft schon Dinge, von denen man selbst noch nichts weiß. Und das ist seine große Begabung, dass er immer weiß, wie er das aus seinen Tänzern dann auch wirklich herausholt.

War es das, was Sie gereizt hat, mit ihm zusammenzuarbeiten? Dass Sie gemerkt haben, er kann etwas aus Ihnen herausholen, oder Sie können etwas freisetzen, was so noch nicht freigesetzt worden war bisher?

Marianne Kruuse: Ja, das war schon sehr reizvoll. Ich wusste damals nicht, was in mir steckt – und so hieß ja auch der Titel eines Buches über mich, das 1986 erschienen ist. Ich wusste es wirklich nicht. Ich habe das erst langsam gemerkt, auch durch die Rollen, die John für mich choreografiert hat. Er ist ein Choreograf, mit dem ich mich immer wunderbar gefühlt habe, mit dem ich sehr gerne arbeitete.

Anfangs war das doch sicher viel Pionierarbeit?

Marianne Kruuse: Oh ja, sowohl in Frankfurt wie auch nachher in Hamburg. In Frankfurt haben wir „Daphnis und Chloe“ gemacht, „Romeo und Julia“, den „Kuss der Fee“, wir haben „Nussknacker“ angefangen, noch in einem alten Bühnenbild, aber die Idee wurde da geboren. Später dann in Hamburg „Sommernachtstraum“, „3. Sinfonie von Gustav Mahler“, „Illusionen – wie Schwanensee“ und andere. Jedoch schon in „Dämmern“ in Frankfurt haben wir gemerkt, dass es plötzlich etwas ganz Anderes wurde. Da hat John in einer neuen Richtung choreografiert – es gab keine Geschichte. Es sind Momentaufnahmen von Beziehungen zwischen Menschen, ohne fortlaufende Erzählung. Wir mussten in kurzen Szenen die Atmosphäre für den Betrachter erschaffen, mit vielen Assoziationsräumen. Das wurde mit Hebungen und kleinen Pas de Deux erzählt, zu Musik von Skrijabin, der Pianist spielt auf der Bühne. Da haben wir gemerkt, dass John einen neuen und anderen Weg gehen wollte. Und auf diesem Weg hat er sich weiterentwickelt bis heute.

Das zentrale Thema der Liebe scheint da ja auch immer wieder durch, es ist ein elementares Menschheitsthema, und viele seiner Stücke sind gerade deshalb so berührend, weil sie dieses Thema immer wieder anders ansprechen.

Marianne Kruuse: Ja, immer wieder. So natürlich, so kraftvoll. Neulich haben wir anlässlich der Feierlichkeiten in St. Petersburg mehrere Pas de Deux aus seinen Balletten gesehen, das war in dieser Konzentration sehr berührend. Und irgendjemand sagte: „Oh Gott – was gibt es viele Probleme zwischen Mann und Frau oder auch zwischen Mann und Mann!“

Wenn Sie jetzt so zurückblicken auf diese Zeit, wie sehen Sie die Entwicklung der vergangenen 40 Jahre? Sie haben ja sehr vieles geprägt in dieser Zeit – als Tänzerin, in der Ballettschule, im Coaching.

Marianne Kruuse: Natürlich habe ich mich in dieser Zeit selbst entwickelt, auch im Unterrichten. Ich habe damals von vorne angefangen und immer weiter dazugelernt. Neugierig war ich schon immer, und ich war darauf aus, es stets noch besser zu machen. Das finde ich bis heute so interessant im Unterricht: was man aus den Kindern oder den jungen Leuten herausholen kann. Ich finde es wunderbar zu sehen, wie sie sich entwickeln. Wenn man versucht, ihnen etwas beizubringen – was kommt da, was kommt nicht. Vor allem aus dem, was nicht kommt, habe ich gelernt. Und dann versucht, es mit der neuen Klasse ein Jahr später anders zu machen. Das zu erleben, war in diesen Jahren für mich immer wieder sehr schön.

Sind es andere Dinge, die heute aus den Tänzern herauskommen oder nicht, als vor 20, 30, 40 Jahren?

Marianne Kruuse: Ich finde nicht! Die Jugend ist anders, natürlich, aber sie ist genauso motiviert und ehrgeizig wie wir es waren. Sie wollen lernen. Natürlich wollen sie auch die schönen Rollen tanzen, natürlich haben sie Wünsche und Träume, das bleibt immer gleich. Es ist so schön, wenn man morgens in den Ballettsaal kommt, und sie stehen da und sind bereit, sind konzentriert und wollen lernen. Man kann es fast mit der andächtigen Atmosphäre in einer Kirche vergleichen, es ist wunderbar still und konzentriert. Man vergisst alles andere. Das ist sehr schön.

Was ist für Sie das Wichtigste, das Sie diesen jungen Menschen weitergeben wollen?

Marianne Kruuse: Ich sage immer als erstes: dabeibleiben, diszipliniert sein und lernen, alleine zu arbeiten! Das ist ganz wichtig. Denn wenn du mit der Schule fertig bist und eine Tänzerlaufbahn beginnst, bist du alleine, auf die eigenen Füße gestellt. Da bekommst du nicht mehr jede Korrektur von jedem kleinen Finger. Da muss man alleine arbeiten können. Das ist ganz wichtig. Ich sage den Tänzern immer, dass sie diese Fähigkeit zur Konzentration beibehalten müssen. Und ich wünsche ihnen, dass sie das zu tanzen bekommen, wovon sie träumen.

Was sind das für Träume, die junge Tänzerinnen und Tänzer heute haben? Erzählen sie Ihnen davon?

Marianne Kruuse: Einige ja. Man kann es auch erkennen, wenn sie ihre Fouettés für „Schwanensee“ üben, ihre Balancen für „Dornröschen“, solche Dinge. Das ist ja nicht einfach zu tanzen. Und man kann vieles heraushören, wenn sie sagen: „Diese Tänzerin/diesen Tänzer finde ich so wunderbar!“ Das sind ja auch Zeichen dafür, wo sie hinwollen, welche Vorbilder sie haben. In der Abschlussprüfung müssen die Schülerinnen und Schüler ein Solo aus dem modernen Repertoire tanzen. Wenn eine dafür die „kleine Meerjungfrau“ wählt, weiß man schon, dass das eine ihrer Traumrollen ist. Oder wenn ein Junge den Danse Siamoise aus „Pavillon d'Armide“ wählt. Natürlich ist es immer ein ganz großer Wunsch, hier beim Hamburg Ballett engagiert zu werden. Es ist ein Privileg, hier aufzuwachsen, bis zu acht Jahre lang an dieser Schule zu sein, wo man alles miterleben kann. Man kann in den Ballettsaal gehen und zuschauen, wie John Neumeier choreografiert, wie die Tänzer probieren. Man kann viele Vorstellungen sehen.

Wie sehen Sie die Entwicklung der Jugendlichen in dieser Zeit an der Schule? Sind sie eher bereit, diese Persönlichkeitsentwicklung zuzulassen als früher, oder dominiert die Technik?

Marianne Kruuse: Ich finde, sie sind sehr offen heute, sehr offen. Natürlich ist die Technik wichtig, weil sie sich so vieles anschauen, auch auf Youtube. Sie sind begeistert, wenn eine sieben Pirouetten dreht auf Spitze. Aber auch ich erlebe immer wieder Überraschungen. Bei Yukino aus dem Bundesjugendballett zum Beispiel habe ich in der 8. Klasse nicht gemerkt, wie viel Potenzial sie eigentlich hat, vom Ausdruck her. Ich glaube, dass die Schüler von dem, was sie alles sehen, sehr viel mitbekommen, auch unbewusst, ohne dass man es sofort erkennt. Es ist in ihnen, und wenn es abgerufen wird, können sie es auch zeigen. Sie sind sehr stark im Ausdruck.

Vielleicht ist auch die Bereitschaft eher da – 40 Jahre Hamburg Ballett haben ihre Spuren hinterlassen. In jedem Neumeier-Stück ist diese Selbstentäußerung gefordert – und die Schüler sehen, dass die Qualität auf der Bühne mit dieser Ausdrucksfähigkeit steht und fällt, dass es nicht nur auf die Technik ankommt. Vielleicht ist das auch eine Art Schulungseffekt.

Marianne Kruuse: Ja, das denke ich auch. Wir haben früher ja längst nicht so viel gesehen wie die Jugendlichen heute. Es gab noch kein Internet. Ich weiß noch, dass meine Freundin und ich in Kopenhagen in jeden russischen Ballettfilm mit Galina Ulanowa gerannt sind, das war unser Vorbild. Aber wann gab es schon solche Filme?! Heute haben die Tänzer viel mehr Zugang zu allen möglichen verschiedenen Darstellungen und Versionen, weil es sie auf DVD gibt oder weil sie bei Youtube eingestellt sind.

Sie haben immer wieder große Talente entdeckt und nach Hamburg geholt. Wie machen Sie das? Was sehen Sie da? Was erleben Sie?

Das ist unterschiedlich. Manchmal fällt die Technik auf, der Körper, die Füße, die Proportionen. Und einige haben eben das gewisse Etwas, es ist schwer zu sagen, was das genau ist. Manche fallen auf durch ihre Bewegungsqualität, nicht durch die Technik. Stefanie Arndt zum Beispiel, sie hatte einfach diese Begabung, das ist ein Geschenk. Oder Christopher Evans, den habe ich auch beim Prix de Lausanne entdeckt. Es war einfach berauschend zu sehen, wie er die Bühne genommen hat, er hat gestrahlt und sich geöffnet und hingegeben, von Tag zu Tag mehr. So etwas fällt auf. Das ist das Gute beim Prix de Lausanne, dass man die Tänzer über mehrere Tage hinweg sieht. Am Anfang sind sie nervös und man sieht nichts Spezielles, und dann fassen sie Vertrauen, und so passiert es eben, dieses Öffnen, wenn sie wirklich ehrlich sind, wenn jemand auf der Bühne steht und ehrlich ist mit sich selbst. Das merkt man. Darauf kommt es an, auf diese Ehrlichkeit.

Das war auch Ihre sehr spezielle Qualität.

Marianne Kruuse: Das lag an der Arbeit mit John, an den Rollen, die er für mich kreiert hat.

Diese Ehrlichkeit pflegen Sie ja auch in Ihrem Unterricht. Wie machen Sie das?

Marianne Kruuse: Ich hoffe, dass ich das pflege! Ich kann nur da sein und so arbeiten, wie ich bin. Ich sage nicht: Schau mal mich an, ich bin ehrlich und offen! Ich hoffe, dass die Schüler das in meinem Unterricht lernen, weil ich bin, wie ich bin. Wenn mir auffällt, dass jemand nicht echt ist, manieriert ist oder übertrieben schauspielert, dann sage ich das. Es kommt vor, dass jemand ein bisschen zu viel mit dem Mund macht, unbewusst oder vor lauter Begeisterung. Da sage ich dann: „Entspanne dein Gesicht, du brauchst das nicht, mach dein Gesicht offen und ruhig.“ Das können die Schüler annehmen und umsetzen. Und manche erreicht man eben nicht, dann hilft jemand anderes, oder es wird eben nicht besser.

Gab es einmal eine Enttäuschung für Sie, wo Sie gedacht haben, jetzt möchte ich nicht mehr weitermachen?

Marianne Kruuse: Keine Enttäuschung in diesem Sinne. Ich kann nur sagen, es ist sehr schwer, es ist das Schwerste überhaupt für mich als Leiterin der Schule, wenn ich einem Schüler oder einer Schülerin sagen muss, dass er oder sie das Ballett nicht als Beruf ergreifen sollte, weil es nicht reicht mit der Begabung und den Fähigkeiten. Das müssen wir jedes Jahr immer wieder tun, und das ist sehr schwer. Aber so ist das Leben. Es ist immer ein Risiko, man weiß nicht, wie sich ein Tänzer entwickelt, wie sich der Körper entwickelt. Da erlebt man viele enttäuschte Gesichter.

Wie erleben Sie es, wenn jemand nicht übernommen wird – es können ja nicht alle zum Hamburg Ballett. Haben Sie später noch Kontakt?

Ja, mit einigen Tänzern schon. Aber ich bin nicht bei Facebook! (lacht) Es ist jedes Jahr traurig, wenn ich erlebe, dass jemand nicht übernommen wird, und ich denke, die oder der müsste eigentlich hier sein, aber sie oder er schafft es nicht. John und ich und auch die anderen Kolleginnen und Kollegen sind da aber fast immer einer Meinung. Dann finden die Schüler eben etwas Anderes, oder sie kommen später zurück und probieren es nochmal, oder sie sind zufrieden, dort, wo sie sind. Oder sie beginnen eine andere Berufsausbildung.

Und umgekehrt: Gab es besondere Glücksmomente?

Marianne Kruuse: Ja, viele! Zum Beispiel, wenn ein Schüler, von dem man gedacht hat, es geht nicht weiter, plötzlich aus sich herauskommt und sehr gut wird. Das sind meine Glücksmomente. Darüber kann ich mich sehr freuen!

Können Sie aus dem Vollen schöpfen? Gibt es viele Schülerinnen und Schüler, die das Potenzial für das Hamburg Ballett haben?

Marianne Kruuse: Es werden immer mehr! Verglichen mit den früheren Jahrgängen sind die Absolventen immer besser geworden. Es hat wohl auch viel damit zu tun, dass sie so viel sehen.

Was, würden Sie sagen, ist das Wichtigste in Ihrer Position als Leiterin einer solchen Schule? Was ist die wichtigste Eigenschaft?

Marianne Kruuse: Dass man offen und ehrlich ist. Dass man mit den Schülern redet. Dass sie Vertrauen bekommen in ihre Arbeit. Dass sie ein Gegenüber haben.

Auch eine Autorität?

Marianne Kruuse: Ja, es ist ja bekannt, dass man nicht zu nett sein soll, sonst kann es leicht schiefgehen. Man muss einen Mittelweg finden.

Wie wichtig ist heute die Disziplin?

Marianne Kruuse: Sehr wichtig, nach wie vor. Aber nicht zu verwechseln mit Drill! Drill ist verbissen und führt nicht zum Erfolg. Mit Drill oder mit Anschreien bekommt man nichts heraus. Das war auch nie meine Methode. Ich kann durchaus streng werden, aber das ist dann schnell wieder vergessen. Es ist am Allerschönsten, wenn die Schüler sich so wohlfühlen, dass sie alles aus eigenem Antrieb machen, dass man nicht dahinter her sein muss.

Wann werden Sie streng?

Marianne Kruuse: Ich werde ungeduldig, wenn ich über längere Zeit versucht habe, gewisse Sachen beizubringen, und dann kommen sie nicht. Dann werde ich ungeduldig, weil ich weiß, sie sind da. Aber es kann auch sein, dass ich es nicht so erklärt habe, dass ich verstanden wurde. Dann muss ich selbst versuchen, einen anderen Weg zu finden. Es kommt immer auch auf die Selbstreflexion an.

Gibt es Kolleginnen, die Sie besonders beeindruckt haben?

Marianne Kruuse: Ich liebe es, bei anderen zuzuschauen und von ihnen zu lernen! Seit über 20 Jahren haben wir das große Glück, für einige Monate im Jahr Irina Jacobson, die berühmte russische Pädagogin, bei uns zu haben und erleben zu dürfen. Für viele von uns wurde ihr Unterricht zum Vorbild. Oder Violette Verdy, die große Balanchine-Tänzerin, kenne ich schon seit unserer Frankfurter Zeit. Ich hatte aber nie ihren Unterricht gesehen, weil wir uns in all den Jahren aus den Augen verloren hatten. Vor einiger Zeit war sie hier in Hamburg und hat eine Zeitlang bei uns unterrichtet. Das war ganz wunderbar. Ich bin sehr beeindruckt von ihrem Wissen und ihrer Musikalität, und vor allem von ihrem Humor!

Und wer hat Sie noch beeindruckt?

Marianne Kruuse: Neulich war ich in St. Petersburg zum ersten Mal in der Waganowa-Schule. Ich habe immer bewundert, wie sie dort die kleinen Schüler unterrichten. Das konnte ich dort aber leider nicht beobachten, ich war nur in einer Klasse, in der meine Schülerinnen unterrichtet wurden. Das war sehr interessant. Wir hatten zwei Mädchen mit, beide aus der 8. Klasse, und sie wurden mit Gleichaltrigen zusammen unterrichtet.

Wie würden Sie den Unterschied beschreiben zwischen hier und dort?

Marianne Kruuse: Es war eine gemischte Klasse, mit mehr oder weniger Begabten. Sie waren nicht alle auf gleichem Niveau wie unsere Schülerinnen. Aber was ich immer wieder bewundere, sind die Port de Bras, und wie sie ihren Rücken benutzen. Das ist ganz außergewöhnlich. Das war immer ihre Stärke, und ist es immer noch. Dafür sind wir im Westen bei der Artikulation der Beine und Füße stärker. Kevin Haigen kann das besonders gut, diese Arbeit mit den Tendus, die Muskelarbeit für Fuß und Bein.

Was zeichnet einen guten Lehrer aus?

Marianne Kruuse: Die Schüler sind der Spiegel des Lehrers! Wenn sie nicht gut sind, wirft das immer auch ein Licht auf die Arbeit des Lehrers. Es gibt tausend verschiedene Dinge, die man korrigieren kann: von den Füßen und Händen bis zum Rücken, benutze diesen Muskel und jenen, und vor allem den Kopf. Wie steht jemand in der Arabesque, wie ist die Schulter, zieht er die Hüfte hoch. Das gehört alles dazu, diese Feinarbeit. Man analysiert so ein Exercice. Technik ist nicht nur Drehen und Springen, sie ist auch alles dazwischen. Das ist die Grundlage für alles.

Woher nehmen Sie Ihre Kraft?

Marianne Kruuse: Ich glaube, es ist die Freude an diesem Beruf. Früher als Tänzerin, und danach als Lehrerin. Dass ich hier an dieser Schule arbeiten darf, mit John Neumeier in dieser Institution Hamburg Ballett. Er gibt so viel. Er hat so viele Ideen, er ist ja immer in die Zukunft orientiert. Wenn man etwas liebt, gibt das auch viel Kraft. Ich habe es auch geliebt zu tanzen. Wie die Schüler oft sagen: du kommst in den Ballettsaal und bist furchtbar schlecht gelaunt, aber wenn die Musik zu spielen beginnt, dann vergisst du das. Der Ärger bleibt in der Garderobe.

Sind Sie dann nicht doch traurig, dass Sie jetzt hier aufhören?

Marianne Kruuse: Doch, schon! Ich kann sicher nicht von einem Tag zum anderen sagen, das war's. Aber es ist trotzdem der richtige Zeitpunkt.

Fehlt Ihnen dann nicht Ihre Kraftquelle?

Marianne Kruuse: Es wird etwas anderes geben. Ich wollte das ja! Ich habe dann Zeit zum Lesen, für alles, wofür ich bisher nicht genug Zeit hatte – reisen, in Ruhe Ausstellungen besuchen, Schauspielaufführungen und Konzerte in anderen Städten erleben. Oder so triviale Dinge wie zum Friseur gehen zu können zu einem Zeitpunkt, wo man nicht sagen muss: ich kann nur zwischen 13 und 14 Uhr.

Wenn Sie zurückblicken, hätten Sie irgendetwas anders gemacht?

Marianne Kruuse: Nein, eigentlich nicht, ich würde alles nochmal so machen – nur besser! Man möchte immer mehr Zeit haben. Für die Schüler im Unterricht, aber auch überhaupt. Wir sind zeitlich etwas gestresst, weil die externen Schulen – Gymnasien und Gesamtschulen – mittlerweile so lange Unterricht machen. Die Schüler schaffen es nicht alle, pünktlich um halb vier zum Unterricht zu kommen. Sie kommen oft eine viertel oder halbe Stunde zu spät oder können an bestimmten Tagen gar nicht kommen. Das ist ein Problem. Wir haben ja oft zusätzlich Proben, das wird dann alles sehr spät. Sie müssen ja auch noch ihre Hausaufgaben machen, sie müssen essen und nicht zu spät ins Bett gehen.

Was möchten Sie Ihrer Nachfolgerin mit auf den Weg geben?

Marianne Kruuse: Meine Nachfolgerin Gigi Hyatt ist eine große Persönlichkeit und eine sehr warmherzige, ruhige Frau. Ich glaube, ich kann ihr nur viel Glück wünschen und Freude an ihrem neuen Werdegang hier.

Sie kennen sie ja schon lange und haben sie als Tänzerin hier erlebt.

Marianne Kruuse: Ja, sie war hier, als ich noch getanzt habe.

Wie ist das für Sie, dass sie jetzt in dieser Funktion zurückkommt?

Marianne Kruuse: Ich finde es sehr schön. Ich hatte überlegt, wer es machen könnte, und an Gigi hatte ich auch gedacht. Ich finde es richtig – sie kennt John Neumeier ebenso gut wie ich, sie kennt das Repertoire, und von ihrem ganzen Wesen her ist sie absolut die Richtige!

 

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