„Goldberg-Variationen“ am Luzerner Theater von Alba Castillo. Tanz: Ensemble von TanzLuzern

„Goldberg-Variationen“ am Luzerner Theater von Alba Castillo. Tanz: Ensemble von TanzLuzern

Betörung in Variationen

Ein großer Wurf von Alba Castillo am Luzerner Theater

Bachs Goldberg-Variationen in Orchesterfassung, Bühnenbild-Recycling, Kostüm-Upcycling, magische Lichtwelten und eine Choreografin, die alles zu beglückender Ganzheit verschmelzen lässt.

Luzern, 16/01/2024

Dem Jahresanfang 2024 wohnt am Luzerner Theater ein besonderer Zauber inne. Zu verdanken ist dies den „Goldberg-Variationen“, deren tänzerische Umsetzung für das Ensemble von TanzLuzern in den Händen der Spanierin Alba Castillo lag, die schon während ihrer Tanzkarriere (u.a. beim Ballett Theater Basel) begann, als Choreografin tätig zu sein.

Die Produktion hat einen Vorlauf, der nicht unerwähnt bleiben soll, da er das übliche „Wir-planen-eine-Premiere–Prozedere“ auf den Kopf stellt. Hausszenograf Valentin Köhler schwebte vor, dem Bühnenbild einer Schauspielproduktion („Das Bildnis des Dorian Gray“) aus der vorletzten Spielzeit in neuer Form ein zweites Leben zu verleihen. Tanzdirektorin und Dramaturgin Wanda Puvogel hatte länger schon die Idee, die „Goldberg-Variationen“ getanzt auf die Luzerner Bühne zu bringen. Die Spiegelflächen des Bühnenbildes schienen bestens geeignet für die Neuverwendung in einem Werk, das mit Variationen spielt. Ein Bühnenbild aus bestehenden Elementen neu zu denken und zu schaffen, ist ein im Hinblick auf Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung sehr wichtiger Ansatz, aber immer noch ein ungewöhnlicher. Und das, obwohl in jedem Theaterfundus auf endlosen Quadratmetern von vielen Händen kunstvoll und aufwendig hergestellte Bühnenbilder und Kostüme darauf warten, dass das Urteil ‚abgespielt‘ ihr Leben beendet. 

Auch Sarah Hofer, die Kostümbildnerin der „Goldberg-Variationen“, sah ebenfalls nichts Ehrenrühriges darin, auf den Fundus des Luzerner Theaters zurückzugreifen und bestehende Kostüme anzupassen und im handwerklichen Ecoprint-Verfahren umzufärben – mit einem Ergebnis, das wie das Bühnenbild maßgeschneidert für das Stück ist. 

Musikalisch entschied man sich für die Orchesterfassung der „Goldberg-Variationen“ von Józef Koffler für kleines Orchester aus dem Jahr 1938, und Alba Castillo wurde für die Choreografie erst an Bord geholt, als die Ideen für die Bühne bereits bestanden und die Musik vorgegeben war. Eine ausgezeichnete Wahl, wie sich bei der Premiere gezeigt hat.

Ausgehend von der Anekdote, die besagt, Bachs Schüler Johann Gottlieb Goldberg habe für einen Grafen die Variationen als Einschlafhilfe gespielt, entwickelten Castillo, Köhler und Höfer ein Spiel mit Traum und Realität, das Lukas Marian in magische Lichtwelten taucht. 

Zu Beginn des Stücks späht ein überdimensionaler Maskenkopf (ebenfalls ein ‚Relikt‘ aus dem Schauspiel) fast unbemerkt mit funkelnden Augen durch den semi-transparenten Hänger am Bühnenportal, auf den ein Bild des leeren Zuschauerraumes projiziert ist. Ein Auftakt zu etlichen surreal anmutenden Momenten des Stücks, das Marion Adrianov mit ihrem Auftritt in einem gigantischen weißen Tüllrock eröffnet, der sie wie eine Wolke umhüllt. Hier öffnet sich nun auch der Blick auf die beweglichen verspiegelten Bühnenelemente; ein runder Spiegel-Plafond hängt mittig über der Szene. Das Bühnenbild doppelt, vervielfacht, spielt mit der Wahrnehmung und verzaubert die Sinne.

In den 30 Variationen entfalten sich Ensembleszenen, Soli, Duette, Trios, Quartette auf eine Art, die in den Bann zieht. Alles scheint sich geradezu zärtlich ineinander zu schmiegen in diesem Stück: der Tanz in die Musik, die Musik in den Tanz, die Bewegungen in das Licht, das Licht in die Bewegungen, Bühne und Kostüme in das große Ganze. Es ist ein in jeder Hinsicht organisches Werk. 

Die Choreografin beweist eine große Gabe für markante Gruppenszenen, die sie souverän zu faszinierenden Geflechten verwebt, die im Ganzen wirken, aber dabei immer auch die einzelnen Tänzer*innen individuell aufscheinen lassen. 

Immer wieder ziehen Hände und Arme den Blick auf sich. Fast wie bei einem Newton-Pendel geben sie Impulse an die eigenen Extremitäten oder die der anderen, geben Richtungen vor und erzeugen eine mal zart, mal kraftvoll pulsierende Energie, die ihre perfekte Entsprechung und Erweiterung in den Reflexionen der Spiegelflächen findet und von der großartigen Musik getragen wird. Alba Castillo hat die „Goldberg-Variationen“ mit einem Bewegungsvokabular ausgestaltet, dessen Einfalls- und Detailreichtum staunen lässt.

Eine halbstündige Pause stört erstaunlicherweise nicht den Fluss des Stückes. Vielleicht, weil drei riesige, schmale Traumgestalten, bei denen nur die blassen Gesichter aus den langen, weiß-grauen Steppgewändern herauslugen, einen rätselhaften Auftritt haben, bevor der Vorhang zur Pause fällt. Die Drei beziehen dann mit sphinxartigem Blick Position im Foyer und schreiten beim Klingeln für den zweiten Teil zurück. Auf der Bühne treffen sie auf Tänzer*innen, die teils aus der Unterbühne nach oben kommen, und auf drei überdimensionierte Maskenköpfe, die sich ins Gemenge mischen, zunächst beobachtend, dann aber in den Tanz einbezogen. Dieser Auftakt zum zweiten Teil zeigt besonders eindrücklich, wie poetisch, stimmig und auch humorvoll Alba Castillos Choreogafie ist.

Die „Goldberg Variationen“ sind eine glanzvolle Leistung der 12 Tänzer*innen, und es erscheint fast unmöglich, Einzelne hervorzuheben, auch wenn die Choreografin gerade auch dies getan hat. Aber tatsächlich sorgen alle – sei es im Verband der Gruppe oder in einem Solo – dafür, dass ausnahmslos jede einzelne Sequenz dieses starken Abends herausstechende, berührende und auch immer wieder augenzwinkernde Momente hat.

Traum und Realität vermischen sich am Schluss auf schwindelerregende Weise, als der auf beiden Seiten verspiegelte Plafond in der letzten Ensembleszene vertikal hängt und gedreht wird. Er fängt Tänzer*innen, Bühne, Licht und auch den Zuschauerraum mit ein. Marion Adrianov schlüpft wieder in den Wolkenrock, womit harmonisch der Bogen zum Anfang geschlagen ist. 

Der euphorische Beifall des Premierenpublikums währt lang, und auch die 19 Musiker*innen aus dem Luzerner Sinfonieorchester, die Jesse Wong hochkonzentriert und immer mit einem Auge auf der Bühne dirigiert, kommen zum Applaus auf die Bühne.

Und um nochmals auf die erwähnte Anekdote zurückzukommen: Die Luzerner „Goldberg-Variationen“ sind wahrlich alles andere als eine Einschlafhilfe – sie sind auf tiefgehende Weise kurzweilig und belebend. 

 

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