Marco da Silva Ferreira: „C A R C A Ç A“

Marco da Silva Ferreira: „C A R C A Ç A“

Verbindungen schaffen

35. Ausgabe von Tanz im August im HAU mit Marco da Silva Ferreiras neuem Stück eröffnet

Verbindungen schaffen will die 35. Ausgabe des Berliner Tanzfestivals Tanz im August. Kann Marco da Silva Ferreiras „C A R C A Ç A“ das einlösen?

Berlin, 10/08/2023

Das Rhizom ist wieder da. Pilze schaffen über das Mycel Verbindungen im Boden und brechen dann auf. Überraschend und schön. So sieht Ricardo Carmona das 35. Festival Tanz im August, das er als neuer künstlerischer Leiter eröffnete und dabei – ebenso wie seine Vorrednerin und HAU-Chefin Annemie Vanackare – auf die aktuell prekärer werdende Fördersituation in der Berliner Tanzszene hinwies. Das lächelte Sarah Wedl-Wilson, Berliner Staatssekretärin für Kultur, gekonnt weg, betonte die Wichtigkeit der Kultur und schon konnte der erste Abend des Tanz im August im vollbesetzten HAU 1 beginnen.

Dabei war der erste Abend mit Marco da Silva Ferreiras „C A R C A Ç A“ tatsächlich ein Beispiel für die Idee des Verbindungen schaffen. Zumal aus der deutschen Erstaufführung sogar eine kleine Uraufführung wurde, da sowohl der mittanzende Choreograf als auch ein weiterer Tänzer erkrankt waren und so nur acht statt zehn Tänzer*innen auf der Bühne standen. „C A R C A Ç A“ schlägt tatsächlich zwischen verschiedenen Tanz- und Musikformen. Die Company bedient sich aus dem reichen Fundus von populären Kulturformen um dieses unter ihr Paradigma. Dieses kenzzeichnet sich durch rasantes Tempo in den Schritten und Anleihen ans Vogueing mit partiellen akrobatischen Einlagen. Ob klassisches Ballett, Can-Can-Formationen, Ringeltänze oder auch politische Songs, alles wird von der portugiesischen Gruppe vereinnahmt und anverwandelt in den ganz eigenen rasanten Stil der Company, der primär aus urbanen Bewegungsformen schöpft. Auch die Kleider gehen diese Transformationen mit. Dominieren am Anfang einfache dunkle Trikots, werden die Kostüme von Aleksandra Protic und Gabi Bartels immer bunter und ausschweifender.

Schnelle, trippelnde Schritte sind dabei das Grundelement, von denen die Truppe immer wieder in kleine und große Formationen ausbricht. Oft kreisförmig wie ein Ein- und Ausatmen der Körper. Alles sehr genau getanzt in mitunter atemberaubenden Tempo bis hin zu tastenden Soli, die dann der Kern für die nächste Bewegungsrunde werden. Hinzu kommt die Live-Percussion ebenso live performte Synthie-Soundtrack von José Marrucho und Luís Pestana. Klappernde Bongos mischen sich mit elektronischen Sounds, die mal in russische Melodien, mal in brasilianischen Samba eintauchen und dem Spiel der Formen eine zusätzliche Bedeutungsebene hinzugeben. In der zweiten Hälfte wird dann der weiße Tanzteppich hochgezogen (Bühne: Emanuel Santos) und es darf so richtig politisch werden. Ein großer Mund aus roten Tücher singt auf portugiesisch ein Lied zur Befreiung der proletarischen Frau und auf der wärmeaktiven Wand erscheinen im grünen Licht die Umrisse der Tänzer*innen, die zuvor noch auf dem Boden lagen. Schließlich wird mit einer Lampe auf deutsch „Alle Mauern fallen“ auf den Prospekt geschrieben.

Der große dramaturgische Bogen allerdings fehlt, trotz aller Begeisterungsfähigkeit für das immense Können und die Energie, die sich von der Bühne auf das Publikum überträgt, und sich am Ende in frenetischen Applaus und Standing Ovations entlädt. Die einzelnen Szenen bleiben gleichzeitig zu ähnlich und zu disparat, um mehr zu erzählen als das, was auf der Bühne ohnehin passiert und eine Verbindung zwischen den Szenen zu schaffen. Das das Rhizom, das Mycel ist gewachsen und verbindet vieles miteinander, doch daraus entwächst an diesem Abend noch kein schillernder überragender Pilz. So ist dieser Abend vor allem eins: ein Start, der hungrig macht auf mehr.

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