„Jane Eyre“ von Cathy Marston, Tanz: Karen Azatyan, Ida Praetorius

„Jane Eyre“ von Cathy Marston, Tanz: Karen Azatyan, Ida Praetorius

Eine starke Frau

Cathy Marstons „Jane Eyre“ beim Hamburg Ballett

Es war die vorletzte Premiere in der Ära John Neumeier, und sie gehörte der neuen Züricher Ballettdirektorin mit ihrer Literaturadaptation des Romans von Charlotte Brontë. Das Hamburg Ballett machte daraus ein Fest.

Hamburg, 05/12/2023

Das Bild am Schluss ist das prägnanteste des Abends und steht sinnbildlich für das ganze Stück: Da löst sich Jane Eyre aus der Umarmung des geliebten Mannes und schreitet zu den letzten Takten der Musik langsam vor zum Bühnenrand. Allein. Selbstbestimmt. Selbstbewusst. Da steht sie. Ganz in ihrer Kraft. Im Lichtkegel eines einzelnen Scheinwerfers, während alles andere ins Dunkel zurücktritt, auch der Mann. Es ist dieses ikonische letzte Bild, das die ganze Geschichte in einem Augenblick kondensiert, und das so wohl nur eine Frau auf die Bühne bringen kann. In diesem Fall ist es die Choreografin Cathy Marston, seit dieser Spielzeit Ballettdirektorin beim Ballett Zürich. Ihr hat John Neumeier die erste Premiere in seiner letzten Spielzeit und vor allem sein Ensemble anvertraut. Um es kurz zu machen: Es hat sich gelohnt. 

Um diesen Schluss gab es durchaus Auseinandersetzungen, wie David Nixon bei der Premierenfeier erzählt. Für dessen Northern Ballet in Leeds im englischen West Yorkshire (das er von 2001 bis 2022 leitete) hatte Cathy Marston den Roman aus dem 19. Jahrhundert schon 2016 für den Tanz adaptiert, damals noch in deutlich kleinerem Rahmen. Und Nixon war anfangs „not amused“ über diesen Schluss, der nicht das Paar in trauter Zweisamkeit zeigt, sondern eben nur sie, die Frau, deren Lebensgeschichte hier erzählt wird. „Es ist ihre Geschichte, und Jane sollte das letzte Wort haben“, begründet Cathy Marston ihre Entscheidung in einem im Programmheft abgedruckten Interview. Wo sie recht hat, hat sie recht. 

Lebens- und Liebesgeschichte mit Hindernissen

„Jane Eyre“, das ist die Geschichte einer Waise, die unter widrigen Bedingungen aufwächst. Nach dem Tod ihres Onkels wird sie von dessen Witwe und deren drei Kindern schikaniert und ausgegrenzt. Jane wehrt sich mit Impertinenz und Kratzbürstigkeit, was dazu führt, dass man sie in einem Internat unterbringt, das unter der Führung von Mr. Brocklehurst, einem herrschsüchtigen Geistlichen, steht. Jane kommt vom Regen in die Traufe, findet aber in einer ihrer Mitschülerinnen, Helen Burns, eine Freundin und Verbündete. Als Helen an Tuberkulose stirbt, bleibt sie wieder allein zurück, kämpft sich aber durch die Schulzeit und macht selbst eine Ausbildung als Lehrerin. Schließlich bewirbt sie sich als Gouvernante auf Thornfield Hall, einem einsam gelegenen britischen Herrenhaus im Norden Englands, wo sie sich um die Erziehung der jungen Adele kümmern soll. Diese ist das Mündel des Hausherrn, Edward Rochester, der sich meist auf Reisen befindet. 

Jane fühlt sich wohl auf Thornfield, wird sie dort doch endlich geschätzt – sowohl in ihrer beruflichen Kompetenz wie in ihrer Persönlichkeit. Als Rochester von einer seiner Reisen mal wieder nach Hause kommt, erkennt er rasch, dass Jane etwas Besonderes ist, gerade in ihrer Eigenständigkeit im Denken, in ihrer freien Wortwahl, in ihrer Geradlinigkeit und Aufrichtigkeit. In einer Zeit, in der Frauen vor allem lieb und nett und angepasst zu sein hatten, in der sich ihr Sprechen auf das Äußern von Belanglosigkeiten und Allgemeinplätzen beschränken sollte, und man es schon gar nicht ertrug, wenn sie eine eigene Meinung äußerten, stachen solche Eigenschaften heraus. 

Rochester fühlt sich davon magisch angezogen, zeigt dies aber nur ansatzweise, zum Beispiel, als Jane ihn nächtens aus seinem brennenden Schlafzimmer rettet. Wer den Brand gelegt hat, bleibt noch unklar. Als Rochester mit Blanche, einer reichen Schönheit aus der Nachbarschaft, anbändelt, muss auch Jane sich ihre Zuneigung eingestehen – unterdrückt diese jedoch entschlossen, denn nie käme sie auf den Gedanken, dass Rochester sie – eine Frau aus niederem Stand – als Braut überhaupt in Erwägung ziehen könnte. Rochester treibt das Spiel noch eine Weile weiter, um herauszufinden, ob die stets beherrschte Jane wohl ähnliche Gefühle für ihn hegt wie er für sie. Als er ihr schließlich nahelegt, eine Stelle im fernen Irland anzunehmen, da sie nach seiner Heirat als Erzieherin ja nicht mehr benötigt werde, bricht es aus ihr heraus, dass sie es kaum ertragen würde zu gehen, weil ihr Thornfield zur Heimat geworden ist, mehr noch: weil er, Rochester, und die Gespräche mit ihm ihr so ans Herz gewachsen sind. Eine Trennung wäre das Schlimmste für sie. Auf dieses Eingeständnis hat Rochester nur gewartet. Nun gesteht er ihr seinerseits, dass sein Interesse für Blanche nur geheuchelt war, und macht ihr einen Heiratsantrag. Jane kann es anfangs kaum glauben, willigt dann aber mit Freuden ein. 

Nur: Das ist natürlich noch nicht das Happy End. Denn das dunkle Geheimnis von Thornfield muss erst noch gelüftet werden. Kurz vor dem Ja-Wort in der Kirche stürmt eine Frau plötzlich wie eine Furie die Kapelle und verhindert die Hochzeit. Es ist Bertha Mason, Edwards Angetraute, die er schon Jahre zuvor geheiratet hat. Geistig umnachtet wohnt sie, von einer Hausangestellten bewacht, im Nordturm des Hauses. Hin und wieder gelingt es ihr auszubrechen – sie war es, die den Brand in Edwards Zimmer gelegt hat. Rochester beschwört Jane, bei ihm zu bleiben und mit ihm am sonnigen Mittelmeer, weitab der englischen Düsternis mit ihren Konventionen und Zwängen, zu leben. Das jedoch ist für Jane nicht vorstellbar, sie will ein ehrbares Leben führen, und kopflos flieht sie aus Thornfield. Sie strandet bei dem Vikar St. John Rivers, wo sie ein neues Zuhause findet. 

In der Zwischenzeit stellt sich heraus, dass Jane von ihrem verstorbenen Onkel auf Madeira ein kleines Vermögen geerbt hat – sie ist nicht mehr mittellos. Als St. John sie bittet, seine Frau zu werden und mit ihm als Missionarin nach Indien zu gehen, spürt sie jedoch, dass sie nie aufgehört hat, Rochester zu lieben und macht sich auf den Weg zurück nach Thornfield. Sie findet allerdings nur noch eine Ruine vor, dieses Mal erfolgreich in Brand gesetzt von Bertha Mason. Edward lebt in einem kleinen Haus in der Nachbarschaft, erblindet beim Versuch, Bertha aus den Flammen zu retten. Er wagt nicht zu hoffen, dass Jane bei ihm bleibt, aber diese setzt sich über alle Bedenken, Schranken und Konventionen hinweg und gründet mit ihm eine Familie. 

Nah an der literarischen Vorlage

Cathy Marston hat diesen bemerkenswerten Lebensweg einer Frau in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf eindrückliche Weise in Tanz umgesetzt. Es ist die Geschichte einer starken Frau, erzählt von einer starken Frau. Sie bleibt nah an der Handlung und findet für die verschachtelte Story (das Buch umfasst 600 Seiten!) eine erdverbundene und doch nie zu sehr im Boden verwurzelte Bewegungssprache, die sich sowohl in den Ensembles wie auch in den Soli und Pas de deux fein herausziselieren lässt. Manchmal erscheint das etwas sehr plakativ, aber die rasche Szenenfolge lässt dann doch keine Oberflächlichkeit aufkommen.

Um in dieser Story, in der es vornehmlich um Frauen geht, auch die männlichen Tänzer zu beschäftigen, hat Cathy Marston die „D-Men“ erfunden, wobei das „D“ ebenso für „death“ (Tod) steht wie für „demon“ (Dämon). Es sind die Gespenster der gesellschaftlichen Zwänge und des Standesdünkels, die Jane immer wieder heimsuchen und sie von ihrem Weg abhalten wollen; die sie auch noch verfolgen, als sie nach der missglückten Trauung aus Thornfield flieht. Geister, die sich mit dem Glockenschlag hinter stilisierten Grabsteinen erheben, Verstorbene, die die Erinnerung der Lebenden beherrschen. 

Patrick Kinmonth hat die Protagonisten mit einer düsteren und wenig kleidsamen Garderobe ausgestattet, die zwar der damaligen Zeit entspricht, aber eben doch „very british“ daherkommt. Auch sein Bühnenbild, das sich den wechselnden Gegebenheiten leicht anpassen lässt, erscheint recht gestrig. Manchmal schrappt es auch gerade noch am Kitsch vorbei, zum Beispiel bei dem brennenden Schlafzimmer, das im Hintergrund aufscheint, und in dem Edward fast wie auf einem Totenbett liegt, bis ihn Jane wachrüttelt. Bis auf einen großen Sessel, der zum Schluss, als das Haus abgebrannt ist, zu einem polsterlosen Gerippe wird, bleibt die Szenerie fast ohne weitere Staffage. Nur die Szenen im Kinderheim bekommen kleine Hocker, auf denen die Schülerinnen sitzen bzw. sich ihre Schlafstatt einrichten. Das ist alles sehr reduziert, um dem Tanz genügend Luft und Raum zu lassen.

Eine Kompanie, die das Stück in allen Aspekten auslotet

Und beides braucht er auch, wenn eine so phänomenale Kompanie wie das Hamburg Ballett sich dieses Stück zu eigen macht. Wie sich dieses auf den Stil John Neumeiers eingeschworene Ensemble in das Abenteuer Cathy Marston stürzt, mit welcher Tanz- und Spielfreude es sich die Rollen aneignet und zum Leben erweckt – das ist schon sehr bemerkenswert. Ida Praetorius ist eine eher feine, zurückhaltend-scheue Jane Eyre, der man hin und wieder noch mehr Kontur, mehr Selbstbewusstsein und Präsenz wünscht (da darf man auf die zweite Besetzung mit Madoka Sugai gespannt sein). Dies umso mehr, als Ana Torrequebrada der jungen Jane auf absolut großartige Weise gerade diesen Trotz, die Widerspenstigkeit, den eigenen Kopf verpasst, der sie ja ausmacht. Karen Azatyan als Edward Rochester erscheint bei seinem ersten Auftritt ein bisschen zu unbekümmert-forsch – dieser Mann hat ja eine traurige Geschichte hinter sich mit der psychotischen ersten Frau, er ist im Kern nicht der pure Draufgänger, als der er sich ausgibt. Seine seelischen Abgründe tun sich jedoch erst erkennbar auf, als er erblindet ist – da zeigt Azatyan die Brüchigkeit dieser Persönlichkeit. Ein besonderer Hingucker ist Silvia Azzoni als Haushälterin Mrs. Fairfax – das ist eine wunderbar schrullige, aber doch sehr liebenswerte Figur, in der Jane eine Verbündete findet. Da ist jeder Schritt bis ins Detail ausgekostet und ausgeschmeckt. Lormaigne Bockmühl, gerade vom Bundesjugendballett ins Corps de Ballet gewechselt, gibt die Adele mit der gebotenen Frische und Unbekümmertheit; Anna Laudere verleiht der Blanche den nötigen Hochmut und die angemessene Eleganz; und Mathias Oberlin als Mr. Brocklehurst ist ein – wie es eben erforderlich ist –ausgemachter Unsympath. Brillant besetzt ist auch die Rolle der Bertha Mason mit Ida Stempelmann, die wie ein furioser Feuerteufel über die Bühne fegt. 

Bei der Musik entschied sich Marston für eine Collage aus Kompositionen von Philip Feeney (geb. 1954), Felix Mendelssohn Bartholdy, dessen Schwester Fanny Hensel und Franz Schubert (wunderschön passend zum Pas de Deux der ersten Begegnung zwischen Jane und Edward: „Auf den Wassern zu singen“ in einem Arrangement für Cello und Klavier, nur leider etwas missglückt gespielt). Nathan Brock meisterte mit dem Philharmonischen Staatsorchester die schwierige Herausforderung, sehr verschiedene Musikstile bruchlos miteinander zu verschmelzen, auch wenn man sich hin und wieder noch etwas mehr Gefühl bei der Intonation gewünscht hätte – aber das kommt dann sicher noch mit zunehmender Aufführungspraxis. 

Hamburg ist die erste deutsche, aber bereits die dritte große Station des Balletts, das schon vom American Ballet Theatre in New York und dem Joffrey Ballet in Chicago übernommen wurde. Cathy Marston war nach der Premiere überglücklich über die gelungene Aufführung und sagte in ihrer kurzen Rede bei der Premierenfeier, dass sich in den zwei Wochen, in denen sie für den letzten Schliff in Hamburg mit dem Ensemble gearbeitet hatte, mit diesen Tänzerinnen und Tänzern ihre Liebe zum Geschichtenerzählen erst richtig erfüllt habe. Und was mag zukunftsträchtiger klingen als ihr Eingeständnis am Schluss: „I wanna be in your family.“ Demis Volpi, der künftige Hamburger Ballettintendant, der sich die Premiere mit angesehen hat, wird sich das gemerkt haben. 

 

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