„Happy Nights“ von Lola Arias mit Csenger K. Szabo

„Happy Nights“ von Lola Arias mit Csenger K. Szabo 

„Happy Nights“

Wieviel Tanz hat Sex - wieviel Sex hat Tanz?

In ihrer dritten und neuen Arbeit am Theater Bremen taucht die argentinische Schriftstellerin, Theater- und Filmregisseurin Lola Arias, zusammen mit dem sechsköpfigen Ensemble der Bremer Tanzkompanie „Unusual Symptoms“ und sechs Sexarbeiter*innen, in eine Welt voller Tabus und Kontroversen ein.

Bremen, 03/10/2023

„Happy Nights“ ist ein spektakuläres Experiment mit beeindruckender, manchmal schmerzhafter Offenheit:

Wie in eine Art „geheime Parallelwelt“ geht es über einen Hintereingang in die begehbare Installation und Performance (Bühne und Kostüme: Irene Ipp). Hier, hinter den Kulissen der öffentlichen Theaterbühne des kleinen Hauses, trifft das Publikum auf Tänzer*innen und Sexarbeiter*innen an originalgetreu nachgebauten Schauplätzen. Ganz nah dran kann mit ihnen über das Verhältnis zu Sex, Geld, Lust und Schmerz nachgedacht werden.

Durch diesen außergewöhnlichen Abend wird das Publikum immer wieder von River Roux geführt. Beim Betreten dieser Welt spricht die überzeugende Performance-Künstlerin, Sexarbeiterin und Luftakrobatin aus Berlin mit tiefer Stimme zunächst von einer großen Leinwand, bevor sie live in Aktion zu sehen ist. River Roux fordert auf, diese Welt möglichst unvoreingenommen zu entdecken. Sie stellt die Frage danach, ob wir letztendlich nicht alle die gleichen Sehnsüchte befriedigen wollen und ermuntert das Publikum, sich dafür hier auf die Reise zu begeben, eigene Vorlieben zu entdecken und ihnen zu folgen.

Entweder schaut man nur durch die Fenster ins Innere oder man kommt durch einen dicken Stoffvorhang dichter an das jeweilige Geschehen heran. Da ist der Nachtclub „Happy Night“, in dem Beate Augustin Barcadi-Cola ausschenkt und sich mit der am Tresen sitzenden Inhaberin Hannelore Dopmann unterhält. Diesen Nachtclub gibt es im Bremer Stadtteil Walle heute noch und Beate erzählt seine Geschichte aus den Zeiten der florierenden Hafen- und Sex Industrie in Jahrzehnte-Schritten, während Hannelore alles mit einem „Ja, so war das“ abnickt. 

Andauernd kommen und gehen die Gäste; ständig erscheint eine andere Performer*in. Hier, wie in den anderen Räumen, wird Körper gezeigt - was er kann, was er bietet, womit er wen verführt oder abschreckt. Da robbt und räkelt sich die Tänzerin Paulina Bedkowska im engen Leoparden-Anzug akrobatisch über die Theke. Tänzer Csenger K. Szabo wirft beim wilden Tanz nach und nach seine Kleider ab. Maria Pasadaki springt und wirbelt wie auch Andor Rusu an der Pole-Stange. Alle erzählen von eigenen sexuellen Erlebnissen und ihrem Verhältnis zu Sex.

Nebenan geht es in ein SM-Studio, wo Kito Chemnitz ihre Arbeit erklärt und an Bereitwilligen demonstriert. Zwei Tänzerinnen turnen akrobatisch und lasziv auf einem altmodischen Frauenarztstuhl herum. Im hinteren Bereich des Raums wird Tänzer Gabrio Gabrielli mit den Händen an die Wand geschnallt. Über dem Gesicht trägt er eine dicke Maske, die ihn von der Außenwelt isoliert. Später wird hier jemand in Bondage-Technik gefesselt und wer sehen möchte, wie sich Männer den Penis mit Nadeln durchstechen lassen, kann verweilen. Ich schlendere lieber weiter.

Auch in eine nachgebaute Privatwohnung mit Camming kann das Publikum schauen und verfolgen, wie Kay Garnellen seinen Körper vor der kleinen Web-Kamera zur Schau stellt und seiner Kundschaft irgendwo auf der Welt sexuelle Dienste anbietet, ohne dass sie selbst gesehen werden. Wieder anders ist das Geschäft mit dem Sex in einer kleinen nachgebauten Kabine zu erleben, wo man hinter einem Vorhang Pornovideos anschauen kann. In einer Modellwohnung für Sexarbeit lümmeln sich mehrere Tänzerinnen zusammen mit der Trans*-Sexarbeiterin Sasha Sioux auf einem breiten Bett. Gemeinsam beginnen sie in eine Art Show-Dance, später wird daraus ein Solo von Sasha. 

Tanz und Bewegung ist auch ein wichtiges Attribut bei der Sexarbeit, doch offensichtlich in der Regel ganz anders kodiert als in der Tanzkunst. Dennoch wirft dieser Abend die Frage auf, inwieweit auch Tänzer und Tänzerinnen als Projektionsflächen für Intimität, Nähe und sexuelle Sehnsüchte für ein Publikum herhalten müssen. Lola Arias bricht in ihrer ersten Arbeit in der Kunstsparte Tanz die Ästhetik des „schönen Tanzes“, des „schönen Körpers“.

„Happy Nights“ ist ein bemerkenswerter Abend über dessen tänzerische Ästhetik wie seinen inhaltlichen Sinn man sicherlich streiten kann. Aber seine Bilder graben sich tief ein und mit Sicherheit lädt diese Produktion dazu ein, über Körperlichkeit und Tanz, Sexualität, Liebe, Intimität, Einsamkeit und Konsum von Sexarbeit wie Konsumverhalten überhaupt nachzudenken und zu sprechen. Wieviel Tanz hat Sex; wieviel Sex hat Tanz? Für „Unusual Symptoms“, einer Tanzkompanie, die sicherlich offen für Experimente ist, war dies ganz offensichtlich eine große Herausforderung. Zum einen mussten die Tänzer*innen einen sozialpolitischen Gedanken in den Tanz bringen, zum anderen mussten sie sich mit der Bewegungsästhetik einer fremden Welt auseinandersetzen.

In der Happy Nights-Bar tummeln sich am Ende alle. Hier herrscht eine gleichermaßen gemütliche wie melancholische Stimmung vor. Diese Bar sammelt alle Träume und Sehnsüchte der Menschen. Wenn Young-Won Song im silbernen engen Kleid ihr Liebeslied singt oder Andor Rusu Hannelore, wie in einem Kaurismäki-Film zum kleinen Tänzchen vor der Bar einlädt wird die hart und provokativ erscheinende Thematik am Ende plötzlich ganz weich.

Allerdings spricht hier niemand von der dunklen Seite dieser Geschäftswelt; von Zwangsprostitution, Kinderprostitution und -pornografie; von Gewalt, Vergewaltigung, Kriminalität. Studien gehen davon aus, dass nur zehn Prozent der Prostituierten freiwillig arbeiten. Um solchen und anderen Gedanken in diesem Zusammenhang Raum zu geben, bietet das Theater nach jedem Vorstellungsblock eine Diskussion an.

„Das Thema Sexarbeit ist wahnsinnig komplex, weil es eine Auseinandersetzung mit Arbeit und Kapitalismus ist, mit Sexualität, körperlicher Autonomie (…) alles große Themen, um die wir nicht herumkommen. Was Happy Nights für mich leistet, ist, dass es Sexarbeiter*innen, die auch gleichzeitig Performer*innen sind, beziehungsweise Performer*innen, die auch Sexarbeiter*innen sind, in einer professionellen Theaterproduktion sichtbar macht und ihnen Zugang zu einer Bühne verschafft, die ihnen normalerweise versperrt ist,“ sagt River Roux in einem Interview auf der Homepage des Theater Bremen.

 

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