„Carnal Screen“ von Stephanie Felber, Tanz: Eléonore Barbara Bovet, Nikos Konstantakis, Ludger Lamers, Angela Mössner

Aus der Zeit gefallen

Stephanie Felbers Uraufführung „Carnal Screen“ im schwere reiter München

Verstörend langsam und surreal sinnlich: Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Tanzfilm und Live-Inszenierung.

München, 31/07/2023

Der Sound bestimmt die Atmosphäre. In seiner zweiten Komposition für die Choreografin Stephanie Felber hat Christian Reiserer softe Klavierklänge, hartnäckiges Klicken und Ticken, rauschende Elektronik und Naturgeräusche bis hin zum Knarzen einer leiernden Maschine zu einem momenthaft löcherigen Klangteppich verwoben. In die Freistellen hinein werden live Küsse geschmatzt oder ein sich am Boden krümmender Körper mutiert zur eindringlichen Tonquelle. Zu hören ist ein Würgen, Husten, Wimmern und Kreischen. Mörder scheint weit und breit keiner in Sicht. Stattdessen stellt sich – frei von erkennbaren Ursachen – das schleichende Gefühl permanenter Anspannung ein, dem jeder der in Erscheinung tretenden vier Körper unterliegt. Oberstes Gebot mag deshalb – konsequent die Hälfte des Stücks hindurch zelebriert – ein Sich-Vorsichtig-Vorantasten sein.

Geisterhaft sinnlich geht es in Stephanie Felbers neuestem Performanceprojekt „Carnal Screen“ zu. Zwei Protagonisten tauchen wie aus dem Nichts auf, tummeln sich in einer Zimmerecke und sind plötzlich wieder weg. Manchmal verblasst ihr auf einem Sofa bzw. Sessel drapierter Leib einfach. Oder aber der Blick des Publikums auf den gezeigten Wohnbereich vernebelt sich. Zu erleben sind tolle, beinahe übersinnliche Effekte. Leider bleibt dem Tanz als choreografische Kunst dabei etwas zu oft nur eine bescheidene Nebenrolle. Hier richtig ist, wer Lust auf Bewegungstheater und darauf hat, den eigenen Wahrnehmungssinn jenseits gerade populärer VR-Brillen-Technik zu schärfen.

Das große Los im Vorfeld haben die Tänzerin Angela Mössner und ihr Kollege Nikos Konstantakis gezogen. Ihre Auftritte wurden vorab filmisch festgehalten. Und so turnen, chillen und wüten die beiden im Bühnenhintergrund des schwere reiter, ohne einen einzigen Tropfen Schweiß zu verlieren. Und noch etwas hat dieses kuriose – einerseits aus der Zeit gefallene, andererseits in ihren Räumlichkeiten gefangene – Paar Eléonore Bovet und Ludger Lamers, den zwei Live-Performern vor Ort, voraus: Sie können mir nichts dir nichts den hellen Anzug gegen ein rotes Kleid tauschen sowie mit sich selbst und dem Bild über der Couch verschmelzen. Auf das Motiv in diesem Gemälde kann man sich ebenso wenig verlassen. Es wechselt immer wieder seine Anmutung wie alles andere an diesem Abend. Das anfangs biedere Blumenstillleben verwandelt sich in ein Interieur, irgendwann kreisen dort Zeiger gegen den Uhrzeigersinn. Salvador Dalí hätte vermutlich seine Freude an Felbers surreal-düsterer Phantasie.

Im Anschluss an ihre Tanzausbildung ließ sie sich weiter zur Fotodesignerin und Kamerafrau ausbilden. Nun scheint sie in dem experimentellen Einstünder „Carnal Screen“ zu einem Formatmix gefunden zu haben, das ihre Interessensgebiete Choreografie und Film sehr gut unter einen Hut bringt. Zudem steckt noch viel ausbaufähiger Spielraum in dieser neuen Konzeptidee von ihr. Das könnte Felbers Ansatz hin zu einem Alleinstellungsmerkmal in Münchens freier Szene sein – insbesondere, wenn sie künftig ihre Protagonisten körperlich noch elaborierter, choreografisch etwas temporeicher und mehr als fast ausschließlich im Alltagsbewegungscodex auftreten lässt.

Werke, die auf tatsächlich findige Art und Weise nicht nur die Ko-Existenz, sondern das Verschränken, Zusammenfließen und Überlappen einer filmischen und einer realen Spielebene erforschen, laufen leicht Gefahr, im statischen Genre Installation stecken zu bleiben. „Carnal Screen“ gelingt der Ausblick auf mehr, obwohl die sich über weite Strecken zeitlupenhaft entwickelnde Vorstellung dem Zuschauer durchaus einiges an Geduld abfordert. Doch wer genau hinschaut, erkennt statt abstrakter Strichlinien bald ein auf den vorderen von zwei Gazevorhängen projiziertes Rollo. Einmal hochgezogen, stehen dem Voyeurismus alle Türen offen. Anders als sonst häufig in Felbers partizipativen Stücken darf man diesmal gelassen auf der Tribüne Platz nehmen. Die Verführung zu einer dubiosen Reise durch verschiedene Parallelwelten passiert ganz von selbst.

 

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