Ambivalenz männlicher Gefühle

Ovationen für „Vanishing Point“ bei „Tanz!Heilbronn“

Schöne verletzliche Begegnungen sind Thema dieser Choreografie von Pia Meuthen, die vom Publikum zu Recht begeistert gefeiert wird.

Heilbronn, 25/05/2022

Die Restlaufzeit des Lebens nimmt ab. Der Wunsch, die verbleibende Zeit so intensiv wie möglich zu gestalten, meldet sich, mal leiser, mal lauter. Während das Kurzzeitgedächtnis nachlässt, spült das Langzeitgedächtnis Erinnerungen hoch. Auch das Körpergedächtnis erinnert sich an abenteuerliche Sprünge und gewagte Volten, die speziell im Leben eines Tänzers nicht nur metaphorisch, sondern ganz real gelebt wurden.

„Vanishing Point“ („Fluchtpunkt“) des niederländischen Tanztheaters „Panama Pictures“ handelt vom Altern, von Vergänglichkeit und der Schönheit gelebten Lebens. Mittelpunkt der fünfköpfigen Herrenriege, mit der das Festival „Tanz!Heilbronn“ zu Ende geht, ist der 69-jährige Tänzer Eddy Becquart. Der Belgier Becquart kann auf eine lange, erfolgreiche Karriere als Tänzer, Choreograf und Tanzdozent an der Fontys Dance Academy Tilburg zurückblicken. Eine seiner Schülerinnen war Pia Meuthen, Choreografin der Produktion.

„Das Stück wurde in engem Austausch mit dem Architekten und Szenographen Sammy van den Heuvel entwickelt“, erklärt Meuthen im Nachgespräch und fügt an: „Wir proben von Tag eins an im fertigen Bühnenbild“. Das Set, ein dicker Turm mit Drehtür, Wandstücke, Durchgänge, verbunden mit einer Traverse, dahinter ein noch höherer Turm – ein abstraktes Konglomerat aus urbanem Beton-Brutalismus, surrealem Labyrinth und abgründigem Abenteuerspielplatz, in dem sich ein zeitloser Bewegungsfluss ergibt, perfekt im Zusammenspiel von Komposition, Material, Farbigkeit, Licht und den menschlichen Begegnungen. Selbst die Farbigkeit der Kostüme, schlichte Herrenanzüge in Beige, Zimt und hellem Grau, passt sich dem Bühnenbild an. Nichts lenkt von der Energie, der Artistik, der Dynamik ab, alles fügt sich harmonisch ineinander. 

Es wird keine lineare Geschichte erzählt. Ständig wechselnde Konstellationen innerhalb des Ensembles (neben Becquard tanzen Francesco Barba, Davide Bellotta, Fabian Krestel und Tarek Rammo) und der suggestive Flow sind Futter für die Fantasie der Betrachter. Eine Choreografie aus Kommen und Gehen, aus Zug und Druck, aus Schwung und Ausbremsen, immer im engen Kontakt mit dem architektonischen Material. Sie kraxeln, klettern, hangeln, rutschen ab, bleiben auf halber Höhe hängen, schieben an den Wänden entlang, kabbeln sich, mal am Boden, mal in schwindelnder Höhe am Rande des Abgrunds.

Die Musik (Davide Bellotta, Budy Motoginta) aus E-Gitarre, Soundeffekten, Zuspielern und der Stille, in der Schritt- und Atemgeräusch zu hören sind, begleiten die synästhetische Zeitreise. Dabei bleibt offen, ob die jüngeren Männer Alter Egos von Becquart aus früheren Lebensphasen verkörpern oder jüngere Kollegen der Gegenwart, die er sich, doppelt so alt wie sie, vergegenwärtigen muss. 

„Der Körper kommt altersbedingt an Grenzen, aber der Drang mitzumachen bleibt stark“ sagt Becquard und gesteht: „Es ist frustrierend, wenn du schwitzend in deinem schicken Anzug dastehst und jemand neben dir strahlt in voller Kraft. Das Gefühl des Alleinseins und der Wunsch, vom Ganzen aufgenommen zu werden stehen dazu in krassem Gegensatz“. Dieser Ambivalenz männlicher Gefühle spürt das Stück nach, ebenso kommt es dem Wunsch nach, im Ganzen aufgenommen zu werden. Magisch ist die Personenführung der Choreografin mit sanfter Hand; ob von Hause Akrobat, Turner oder Tänzer, die harmonische Grammatik der Choreografin gleicht Qualitäten - akrobatische, musikalische und tänzerische - so an, das sie verschmelzen. Nie entsteht der Eindruck rivalisierender Absicht, nach dem Motto: Oha, der Alte will zeigen, dass er es noch draufhat“. Es entstehen keine rohen Kontraste, sondern schöne, verletzliche Begegnungen.

Genau das, schöne verletzliche Begegnungen, sind Thema dieser Aufführung, die vom Publikum zu Recht begeistert gefeiert wird.

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