„Dornröschen“ von Fábio Lopez. Tanz: Ballettcompagnie Illicite Bayonne 

Und wenn sie nicht gestorben sind…

„Dornröschen“ mit der Ballettcompagnie Illicite Bayonne in Ludwigshafen zu Gast

Freundlicher Beifall des Publikums für ein Stück, dessen Überhang an dunkler Tiefenpsychologie in der Handlung sozusagen wieder gutgemacht wurde durch viel eingängigen Spitzentanz.

Ludwigshafen, 27/12/2022

Weihnachten ist die Zeit der Wunder. Nicht von ungefähr sind Märchen in dieser Zeit besonders beliebt – und wo anders könnten sich Erwachsene so unbeschwert der Sehnsucht nach Geschichten mit gutem Ausgang hingeben als im Märchenballett? Für manche Besucher*innen gehört der einzige Ballettbesuch des Jahres zur Weihnachtsstimmung wie der einzige Kirchenbesuch zu Heiligabend. Die Erwartungshaltung ist in diesen Fällen vergleichbar: Etwas Schönes soll her, dass hilft, in Festtagsstimmung zu kommen. Spitzentanz mit gefälligen Arrangements und prächtigen Kostüme könnten diese Wirkung entfalten – wenn die Frage Zeitgenossenschaft nicht wäre.

Choreograf*innen, die sich gesellschaftlich im Hier und Jetzt verorten, haben nicht wenige Schwierigkeiten mit der kritiklosen Adaption traditioneller Ballett-Stoffe. Es hat lange gedauert, bis die aktuellen gesellschaftlichen Debatten auch in den Tempeln des Spitzentanzes angekommen sind. Heute müssen sich allerdings selbst Stoffe wie „Der Nussknacker“ oder „Dornröschen“ Kitsch- und Klischeeverdacht gefallen lassen.

Kein Wunder, dass unzählige Ballett-Fassungen der großen klassischen Ballette existieren, in denen das Altbekannte - zum Beispiel die Ballettmusik - zwar das Publikum anlocken soll, dessen Erwartungen aber doch unterlaufen werden. Der französische Choreograf Fábio Lopez hat mit der von ihm 2015 gegründeten Compagnie Illicite Bayonne eine „Dornröschen“-Version gestemmt, die mit gerade mal elf Tänzer*innen auskommt. Da musste schon beim Libretto ordentlich abgespeckt werden, und Lopez hat mit großem Ehrgeiz eine überraschende inhaltliche Fassung kreiert, in der die böse Fee Carabosse den Prinzen gebiert, ihn aber zugleich zum unwissentlichen Ausführer ihrer finsteren Pläne macht. So ist es der mit Dornen bewehrte Prinz selbst, der den Schlaf der jungen Prinzessin auslöst. Um den Bann aller Flüche aufzuheben, muss er seine eigene Mutter ermorden. Apartes Detail: Carabosse wird aufwändig von einem Mann getanzt.

Versüßt wird diese krude Märchenversion, deren Handlung nur in einigen dramatischen Szenen mehr beschworen als erzählt wird, durch sehr viel gekonntes klassisches Ballett. Die Kompanie verfügt über Tänzer*innen auf hohem technischem Niveau, und das spielt der Choreograf genüsslich aus, allerdings ohne großen Wagemut im Bewegungsvokabular. Es scheint, als hätte er dem Medium doch nicht ganz getraut, wenn es um die großen Gefühle geht. So lässt er beispielsweise den Kummer des Prinzen deutlich werden, indem er den Tänzer mit an Edvard Munchs „Der Schrei“ erinnernder Mimik über die Bühne schickt.

Die nicht näher benannte achtköpfige Hofgesellschaft trumpft immer wieder dramatisch auf, unterstrichen von viel Blech in den ausgewählten Stücken der Tschaikowsky-Ballettmusik (mit Unterstützung von Maurice Ravel). Wagemut beweisen die Kostüme: mal weiße Corsagen für alle, mal schwarze lange Kleider und fließenden Hosen für die Höflinge. Selbst Prinz und Prinzessin in feiern ihre Hochzeit in Schwarz.

Freundlicher Beifall des Publikums für ein Stück, dessen Überhang an dunkler Tiefenpsychologie in der Handlung sozusagen wieder gutgemacht wurde durch viel eingängigen Spitzentanz.
 

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