"Warum ist die Nase blau?". Tanz: Anna-Maria Maas als Emy Frisch, Kirill Kornilov als Karl Schmidt-Rottluff

Trost eines Lebens im Tanz zu zweit

Kraft der Kunst und Kunst des Tanzes: „Wieso ist die Nase blau?“ am Theater Chemnitz

Mit abstrakter Ästhetik statt biografischer Realität spürt Katarzyna Kozielska Stationen aus dem Leben des expressionistischen Malers Karl Schmidt-Rottluff nach.

Chemnitz, 27/03/2022

Wüsste man nicht, dass es sich hier um eine Tanzproduktion zu Leben und Werk des expressionistischen Malers Karl Schmidt-Rottluff, geboren 1884 in Chemnitz, gestorben 1976 in Berlin, handelt, und dass es in seinen farbintensiven Bildern schon mal auch blaue Nasen geben kann, könnte man denken, es handle sich um einen Scherz mit großem Augenzwinkern im Hinblick auf die Gefahren der Kunst des Tanzes, des Balletts insbesondere. Und da wäre – Achtung! – eine blaue Nase nach einem Sturz noch das geringere Problem, angesichts der Tatsache, dass der Tanz wohl die verletzlichste und somit existenziellste Art der darstellenden Künste ist.

Nein, in der Chemnitzer Uraufführung von Katarzyna Kozielska, in der Ausstattung von Thomas Mika, begeistert am Abend der Premiere vom Publikum gefeiert, gibt es keine Stürze. Es gibt auch keine ästhetischen Abstürze, die man ja kennt, wenn immer wieder gern in Tanzproduktionen gewissermaßen Bilder zum Leben erweckt werden. Wenn gemalte Menschen tanzen, Landschaften nachgestellt werden und die Kraft des Augenblicks in verallgemeinernden Klischees an Intensität verliert. Das kann gut gehen, sehr gut sogar, vor allem in Chemnitz, wenn man sich an Rainer Feistels Choreografie „Gesichter der Großstadt“ von 2016 nach Bildern von Edward Hopper erinnert.

 

Katarzyna Kozielska und Thomas Mika gehen einen ganz anderen Weg. Schmidt-Rottluffs Bilder selbst geben eher Anregungen, schaffen Räume der abstrakten Ästhetik des Tanzes in der Wahrnehmung von Raum und Klang, Fantasie und Sehnsucht, Realität und Traum, Gewinn und Verlust, Aufstieg, Fall, Verachtung, Missverstehen, Irrtum, Zärtlichkeit der Zuneigung, Einsamkeit des Missverstehens.

Und dabei geht es auch nicht um eine Art biografischer Realität, auch wenn sich am Ende die sieben Stationen der Choreografie von Momenten der Lebensbilder des Chemnitzer Malers ableiten lassen. Das ist aber nicht unbedingt nötig, weil die Intensität des Tanzes bei den Zuschauenden eigene Horizonte der Wahrnehmung, der Erinnerungen, auch mitunter längst vergessener Bilder, wieder in Bewegung zu bringen vermag.


Auf der Bühne werden auch keine Bilder nachgestellt. Dabei bleibt es der Fantasie überlassen, die immer wieder verwendeten leeren Rahmen, mitunter von gewaltigen Dimensionen, selbst mit den Fantasien bemalter Leinwände zu gestalten. Es gibt auch, in der Erinnerung grausamster, existenzieller Erfahrungen des Malers Karl Schmidt-Rottluff, dessen Kunst in der Zeit des Nationalsozialismus als entartet galt, verboten war. Nach dem Bau der Berliner Mauer wurde ihm nicht erlaubt seine Heimatstadt, dann Karl-Marx-Stadt, noch einmal zu besuchen, bevor 1975 seine Frau Ems und ein Jahr darauf er selbst im Alter von 92 Jahren starb. 


Wenn auch die Rahmen demoliert sind, wenn der Maler und seine Frau unter den Schatten verachtender Zerstörung in einander Kraft gebender Intensität zu tanzen vermögen, dann hat dieses Ballett in Chemnitz wahrhaft große, berührende Momente im Vertrauen auf die Kraft der Kunst des Tanzes.


Die Choreografin leugnet nicht, dass sie aus der Tradition der narrativen, klassischen und neoklassischen Ballettkunst kommt, dass sie es vermag, klassische Elemente mit denen zeitgenössischer Kraft des abstrakten Ausdrucks zu verbinden. Spitzentanz wird bei ihr für keinen Moment zur Demonstration der Leistung, sondern in dieser speziellen Kunst assoziativer Erzählweise vermag sie zu vermitteln, wie sich Horizonte der Empfindsamkeit weit öffnen lassen.

Katarzyna Kozielska kann auch bestens mit den Traditionen symbolhafter Figuren umgehen, so in berührender Eindrücklichkeit mit Raul Arcangelo als Tod und Sabrina Sadowska als Nirriti, in assoziativer Fantasie einer Göttin hinduistischer Mythologie, als Personifikation für Zerstörung und Leid. Das kann man wissen, muss man aber nicht, man kann es nachlesen, muss man aber nicht. Die Kraft der Geheimnisse, des Rätsels, bleibt eigentlich in allen der sieben Stationen dieser Choreografie von großer Bedeutung. Immer umgeben von Situation, die nicht dem reinen Verstand geschuldet sein sollten, sondern der Fantasie, den Assoziationen der Farben, der Formen. So auch die dunkle Leere einer großen Bühne, die immer wieder Kraft des Tanzes sich in die bewegende Farbigkeit der Fantasie zu verwandeln mag. Und so beantwortet sich auch die Frage danach, wieso eine Nase blau sein kann und dass dies nicht von einem Schlag oder Sturz herrührt, von somit nicht vorhandenem Schmerz ganz zu schweigen.


Am Ende, vor allem getragen von der großartigen Kunst des Tanzes, in zärtlich schwebendem Miteinander, in der Stille auswegloser Verzweiflung, in fast entfremdeter Entfernung, um dann doch diesen Weg eines Lebens mit allen Höhen und Tiefen in neue Richtungen zu führen, sich Verunsicherungen zu stellen und zu bestehen, fügen sich sieben Bilder eines Lebens zu zweit. Sie gestalten sich am Ende zu einem Pas de deux in sieben Sätzen. Diese kraftvolle Sensibilität der Choreografie ist eine Hommage an die Kraft der Kunst des Tanzes zu zweit, auch in den Passagen der Einsamkeit, dann wieder im Aufhelfen, im fröhlichen Überschwang, in schwebender Poesie der Tänzerin, in träumerischen Dialogen zu zweit, im Ausbruch und in der Umkehr des Tänzers. Großartig, Jean-Blaise Druenne als Karl Schmidt-Rottluff und die wunderbare Natalia Krekou als seine Frau Emy Leonie. Und dazu ein kraftvolles, faszinierendes Ensemble der Chemnitzer Kompanie in größeren und kleineren Rollen wie zum Beispiel, Soo-Mi Oh als Kunsthistorikern, Sandra Ehrensperger als Mäzenin, Sascha Paar, Alejandro Guindo Martin, Roberto Calabrese und Dan Azeri in der Künstlergruppe „Die Brücke“, der Schmidt-Rottluff angehörte.


Es gibt Paare, Modelle und Soldaten beider Weltkriege in diesen Lebensbildern. Farben bleiben bildhaft in Segmenten, Grundfarben der Kunst des Malers als Säulen, die sich herabbewegen in die Leere des Bühnenraums, umgeben von dunklen Wänden. Und es sind Tänzerinnen und Tänzer des Ensembles als Farben der Bewegung, aufleuchtend und verlöschend, eigenständig oder begleitend.


Was in den sieben Sätzen des Lebens mit Erinnerung an Erfolg beginnt, wird gebrochen durch zerstörte Idylle, durch die Erfahrungen des jungen Soldaten im ersten Weltkrieg. Ja, auch die Frauen, wie sie im Leben vieler Künstler eine nicht unwesentliche Rolle spielen, durchtanzen die Stationen der Erfahrungen. Der Tanz zu zweit hat aber die Kraft, selbst an Erfahrungen innerer Emigration nicht zu verzweifeln. Er kann dazu verhelfen, Orte der Zuflucht zu finden, einen Neubeginn zu wagen und der Kraft zu vertrauen, dass es für Kunst keine Grenzen gibt, auf den Stationen dieses Lebens, ganz konkret durch den Bau der Berliner Mauer. Aber was für ein Bild: Diese Mauer besteht aus leeren Kartons. Pappe ist von begrenzter Lebensdauer. Kunst aber nicht. Übertragen in den Tanz, kraft der Sprünge schon gar nicht.


Und so klingt nach einer musikalischen Umrahmung gefühlsberührender Klaviermusik von Joel Beging, auch mit musikalischen Sprüngen, bei unterschiedlichsten Klangfarben, etwa von Bach, Schubert, Gluck, Max Richter, Krzysztof Penderecki oder einem Ausschnitt aus Henryk Mikołaj Góreckis kleinem Requiem für eine Polka, Songs von Meredith Monk, diese hochpoetische Choreografie aus mit den Klängen des Beginns. Nur dass am Rand der Bühne die beiden Stühle am Tisch unter den noch größer gewordenen leeren Rahmen jetzt leer bleiben. Hier, wo Karl und Emy immer wieder zueinander fanden, sich über den Tisch gebeugt an den Händen hielten, als wollten sie dem Druck drohender Trennung widerstehen, ist es leer geworden.
Zuvor hatte der Tod beide zueinander geführt, eigentlich über das Leben hinaus, jetzt aneinander gelehnt: Das versöhnte Bild eines Trios, nach sieben Bildern dieses Tanzes zu zweit.
 

Kommentare

Noch keine Beiträge