„Terebrante“ von Angélica Liddell

Fallende Gitarren und Zähne

Flamenco ist vor allem Schmerz

Angélica Liddell zeigt ihre Flamenco-Reflektion „Terebrante“ als deutsche Erstaufführung auf dem Kunstfest Weimar.

Weimar, 05/09/2022

Flamenco ist düstere Leidenschaft geboren aus emotionalem Schmerz. So die Hauptthese der spanischen Perfomance-Legende Angélica Liddell, ausgezeichnet mit dem spanischen Nationalpreis für Dramatik 2012 und Gewinnerin des Silbernen Löwen für Theater in Venedig 2013, die sich in ihrer aktuellen Performance dem andalusischen Tanz angenommen hat. Ihr Kronzeuge ist dabei der Cantaor Manuel Agujetas (1933-2015), der aus einer alten Flamenco-Familie aus Jerez de la Frontera stammt. Für „Terebrante“, auf deutsch etwa: „bohrend“, hat er einen wohlgeformten Zitatenschatz beigesteuert, aus dem Liddell zwischen den Szenen immer kleine Kostproben einblendet, die sich meist um Schmerz drehen, aus dem eben aller Flamenco geboren wird. Und um es vorwegzunehmen: Getanzt wird nicht, auch gesungen wird wenig und wenn, dann kein Flamenco.

Stattdessen versucht Liddell dem Flamenco die Zähne zu ziehen, ohne seine Mystik zu beschädigen – bildgewaltig aber mehr Bilderrätsel denn stringentes Argument. Die Uraufführung fand letzten Oktober am CDN Orléans statt; das Kunstfest Weimar präsentierte jetzt die deutsche Erstaufführung. Liddell spielt größtenteils selbst, unterstützt von Lola Jiménez, Gumersindo Puche, Palestina de los Reyes und François Gardeil.

Ausgangs- und Endpunkt bleibt der Schmerz, der sich beim Flamenco-Gesang aus jeder Pore schwitzt. Nach einer pointierten, witzig-frechen Einstiegsnummer a palo seco, also ohne Musik im Glitzerkleid und nur angedeuteten Flamenco Bewegungen, dafür mit deutlich heruntergelassenem Schlüpfer mit Rauchversuchen aus der Gesäßspalte und kleinem Intermezzo mit Fußball geht Liddell gleich in die Vollen. Auf der Leinwand erscheint eine Reihe Zähne, die nach und nach gezogen werden. Jemand im Publikum ruft „Scheiße!“, die ersten verlassen den Raum, doch es geht ja genau darum: den Schmerz aushalten, überleben, in Kunst transformieren. Und nicht von ungefähr erinnert das Ganze an „Un chien andalou“ von Luis Buñuel und Salvador Dalí von 1929 mit der berühmten Szene mit dem Schnitt durch einen Augapfel. Es ist eben nur viel länger.

Nicht die einzige Filmreminiszenz: Zuvor lässt sie bereits einen kleinen Jungen mit Atemmaske vor einem roten Samtvorhang auftreten, und es wird italienisches Playback gesungen, was mit einem Schlag drei David-Lynch-Filme – dem großen amerikanischen Surrealisten – zitiert und gleichzeitig verfremdet.

Doch sie kann auch sehr direkt: Vom Bühnenhimmel schweben 16 Flamencogitarren, um danach krachend und zerstäubend auf dem Boden zu zerschellen, während Liddell ungerührt in der Mitte dieses Instrumentenmassakers steht und die Gewalt- und Bedrohungserfahrung sehr konkret wird. Gegen Ende werden dann der Schmerz und das Leid in Unmengen von Alkohol ertränkt, die Lidell über sich ergießt, während im Hintergrund eine Steinbockfigur seinen Kopf erhebt, und auch Verweise auf die katholische Ikonografie oder Figuren Lorcas lassen sich finden, ohne dass Liddell irgendeines dieser Element in Gänze performativ ausbuchstabiert. Ob die Liter von Wein und Bier die über ihren Körper fließen nun Vorbereitung der Kunst bedeutet oder diese verhindert – das bleibt freilich offen. So bleibt der Abend ein bildgewaltiges Suhlen im Schmerz und eine Feier des Surrealismus auf offener Bühne.

„Den Flamenco kann ich nicht erklären“, wird Manuel Agujetas ganz zu Beginn zitiert. Das gilt auch für Liddell. Aber immerhin macht sie sich und uns ein Bild davon.

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