Probe mit Marcia

Intime Einblicke beim „Training zum Zuschauen“ mit Marcia Haydée beim Staatsballett Berlin

Zuschauer*innen erleben, wie die Choreografin, deren Inszenierung von „Dornröschen“ im Mai Premiere hatte, mit David Soares an der Rolle der Carabosse arbeitet. Ein Vermittlungsprogramm der Sonderklasse!

Berlin, 01/07/2022

Auf der großen Bühne der Deutschen Oper Berlin öffnet sich der Vorhang und da ist sie ja! Nadja Saidakova, die legendäre Primaballerina und Ballettmeisterin des Staatsballett Berlin leitet heute das klassische Tänzertraining an.                      

„A little bit bigger”, „feel your long arms and long legs” - Pliés, Tendues, Battements und Rond de jambes. Tänzer*innen des Staatsballett Berlin starten mit einem klassischen Stangen-Exercise im pompös-verschnörkelten Schlossgarten-Bühnenbild auf der großen Bühne der Deutschen Oper Berlin. Wir sehen sie heute in legeren Probenkostümen bei ihrer täglichen Arbeit.

Nach jeder Übung bekommen die Tänzer*innen einen aufgeregten Zwischenapplaus aus dem unruhigen Publikum, das immer wieder auf juchzt, tuschelt, lacht. Die Zuschauer*innen können sich nicht so richtig entscheiden, ob sie wie gewohnt andächtig ruhig ihre Zuschauerposition einnehmen möchten oder lieber „Tag der offenen Tür” spielen, mitfilmen und das Gesehene in Echtzeit mit der Person auf dem Nachbarsitz kommentieren möchten. Kein Wunder, denn der Blick „hinter die Kulissen” und ein Einblick in die Arbeitsprozesse des Staatsballett Berlin ermöglicht intime Einblicke und Nähe zu den Stars ohne die erhabene Vorstellungssituation.

Während Nadja Saidakova ihre Gruppe zu Live-Musik des Haus-Pianisten Samuel Solís-Serrano anleitet, kommentiert sie die Situation für die Zuschauer*innen und versucht das Gesehene im balletttypischen Sprachmix für alle transparent zu machen. „It’s fast but they know it - keine Sorge”, „normalerweise machen wir das viel länger, dafür haben wir nur heute keine Zeit”, „eigentlich müssen wir unsere Stangen selber tragen und aufbauen. Es ist ein großer Luxus, dass das heute die Kolleg*innen übernehmen”.

Es geht von der Stange in die Mitte. Die Bewegungen werden raumgreifender und komplexer. Ballettfreunde kennen das. Im Schnelldurchlauf werden nun Pirouetten, Diagonalen, kleine und große Sprünge demonstriert. Für eine öffentliche Probe scheint alles sehr nahtlos, fehlerfrei zu verlaufen. Doch dann fällt eine Tänzerin nach ihrer Drehung und stürzt zu Boden. „Alles ok?” Kurz darauf fährt aus dem Backstage Bereich ein Kleinkind auf einem Plastik-Motorrad auf die Bühne und rollt damit zur anderen Seite. Zu wem es wohl gehört? „Das passiert - wir sind live”, kommentiert Nadja Saidakova, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und schließt das Training ab.

Als Höhepunkt dieses ambitionierten Vermittlungsprogramms betritt Ballettlegende Marcia Haydée die Bühne zur öffentlichen Probe ihrer Inszenierung von „Dornröschen“. Gemeinsam mit David Soares, seit April 2022 neuer Erster Solotänzer, arbeitet sie in seiner Rolle der Carabosse, die er in der kommenden Saison verkörpern wird. „Ich komme aus Brasilien und er auch. Jetzt sind wir zusammen in dieser tollen Stadt Berlin und ich freue mich, dass wir zusammenarbeiten können. Ein Geschenk!” Dass David Soares nach dem russischen Angriff auf die Ukraine das Bolshoi Ballett verlassen hat, wird nicht erwähnt.

David Soares lächelt und winkt ins Publikum. Wie eine böse Fee sieht er nicht gerade aus, doch dann bekommt er den schwarzen langen „Kimono”-Umhang und darf einmal dramatisch flatternd über die Bühne flitzen um allen im Saal zu demonstrieren was als nächstes passiert. Der Prolog!

Wir kennen die Geschichte. Aus Wut darüber, dass die böse Fee keine Einladung zum Fest erhalten hat, verflucht Carabosse das Königskind. Die Szene ohne Licht, Requisiten und die anderen Darsteller*innen hat etwas Komisches. Ein Kind im Zuschauerraum fragt: „Ist er ein Clown?”

Ganz präzise wird diese Szene eingeübt. Erst einmal, dann zweimal, noch einmal und wieder von vorne. Es dauert lange bis man ein Solo komplett durchtanzen kann und genügend Kondition dafür aufgebaut hat, erklärt Marcia Haydée dem Publikum die Unterbrechungen. Daran hegt hier niemand Zweifel. Denn das was David Soares vorführt, scheint jegliche Schwerkraft und physikalische Grenzen zu überwinden. Wir sehen atemberaubende, gewaltige Sprünge, einen ausdrucksstarken, fliegenden Tänzer und höchstes tänzerisches Niveau.

Einfühlsam navigieren Marcia Haydée und Nadja Saidakova David Soares durch Raum und Choreografie, lockern die manchmal angestrengte Stimmung immer wieder durch kleine Lacher auf, springen als Platzhalter für die anderen Rollen der Szene ein und demonstrieren dem Saal ein freundliches und aufeinander achtgebendes sowie Grenzen respektierendes Proben.

„Es war zu schnell” so Nadja Saidakova. Und „was Nadja sagt, ist die Wahrheit” so Marcia Haydée. Na dann „va bene”, „noch einmal” - „aber bitte mit Vorsicht”, „cuidado”. Aufpassen, das ist sonst gefährlich. Und Stopp! „Er braucht Zeit zum Atmen”.

Genug für heute - am Ende klopft Marcia Haydée dem sich nach vorne beugenden, sichtlich erschöpften Tänzer auf die Schulter und streichelt ihm über den Kopf.

Dank solch intimer Einblicke, die das familiäre Publikum beflügelt in den Abend entlassen, lassen sich auf wunderbare Weise Zugänge für das Ballett auch für zukünftige Generationen schaffen. Da die aktuelle Intendantin so vorgelegt hat, ein Wunsch an den zukünftigen Ballettdirektor Christian Spuck: Bitte weiter so!

 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern